Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
Augenblicklich verlor er die Lichter der Stadt aus den Augen. Er hörte nur seinen eigenen Atem. Die Äste der Bäume schlugen ihm ins Gesicht.
Meine Mutter ist eine irre Zauberin. Wieso tischte man mir solche Märchen auf? Und wenn es die Wahrheit ist?
Tränen nahmen ihm die Sicht. Er rannte, so schnell er konnte. Mit einem überraschten Laut stürzte er kopfüber den Hang hinab. Er spürte den unebenen Untergrund, wie dornige Büsche ihm die Kleider zerrissen. Hart schlug er auf und blieb liegen. Er wusste später nicht mehr wie lange. Es kam ihm endlos vor. Irgendwann entschied er, dass es ihm nicht gefallen würde, so gefunden zu werden. Der Mond stand fahl am Himmel. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Tiefer Wald. Rolo untersuchte sich. Seine Arme waren von blutigen Kratzern überzogen. Seine Hose war zerrissen und voller Schlamm. Sonst fehlte ihm nichts. Still war es hier. So still, dass ihm mulmig wurde. Er dachte kurz daran, zurück zur Farralot zu gehen.
Nein. Sollen sie mich doch suchen!
Um die Angst zu vertreiben, bewaffnete er sich mit einem Stock. Er marschierte in die Richtung, in der er Neunseen vermutete. Das Gelände war abschüssig. Unter dem verrottenden Laub verbarg sich unebener Boden. Der Schreck über den Sturz steckte ihm noch in den Gliedern und machte ihn langsam. Eine Eule rief in die Nacht. Entdecken konnte er sie nicht. Ihm fröstelte. Ein feuchtes T-Shirt war nicht die richtige Kleidung für eine Nachtwanderung. Er dachte an die Helden seiner Bücher.
Ob Robin Hood auch Angst gehabt hätte, allein im Wald? Nicht umsonst hatte er stets Little John im Schlepptau.
Der Gedanke ließ ihn schmunzeln und machte ihm Mut.
„ Zu mir, meine unsichtbaren Merry Men!”, rief er gegen die Stille des Waldes. Seine Worte hallten durch die Nacht. Den Stock wie ein Schwert schwingend, beschleunigte er seine Schritte. Bald wurde der Wald lichter. Der Mond erhellte den Weg. Rolo erinnerte sich, dass er ihn über der Stadt scheinen sah. Jetzt hatte er wenigstens eine ungefähre Richtung. Das Land leuchtete zart silbern und sah verzaubert aus. Vereinzelte Baumgruppen standen als dunkle Schatten am Wegesrand. Außer seinen Schritten hörte er nur den Wind, der durch das hohe Gras fuhr. Ein Käuzchen rief.
Wenn ein Kauz singt, muss jemand sterben. Ich werde es nicht sein! Wo Mama jetzt wohl ist? Wieso hat sie sich nie bei mir gemeldet? Vielleicht will sie mich nicht mehr. Oder Paps hat es verhindert?
Plötzlich veränderte sich etwas. Rolos Nackenhaare stellten sich auf.
Ich bin nicht mehr allein.
Er ging weiter. Wie beiläufig schwang er seinen Stock und schlug die Blüten der Blumen am Wegesrand von ihren Stängeln. Dabei beobachtete er aufmerksam die Umgebung. Plötzlich flog das Käuzchen laut zwitschernd davon. Jemand hat den Vogel aufgescheucht! Ein Schatten zwischen den Bäumen. Groß, breitschultrig, mit Schlapphut. Rolo blieb fast das Herz stehen. Aber dann erkannte er die Stimme.
„ Ist da wer? Natürlich ist da wer. Na lüg’ ich denn? Schon gut, mein junger Freund. Du hast mich erwischt.”
„ Solomon, sind Sie das?”, rief Rolo.
„ Bin ich wohl.“ Solomon trat aus dem Schatten.
Rolo war erleichtert, aber auch überrascht. „Ist Ihnen wieder ein Lämmchen abhandengekommen?“
„ Ein Lämmchen? Ja, so könnte man es sagen. Wenn ich es recht bedenke, sind ständig irgendwo Lämmchen verirrt, um die es sich zu kümmern gilt.” Er lachte. „Warum stapfst du hier allein durchs Dunkel. Wo ist dein Vater, der lustige Kerl?“
Rolo dachte wieder an den Streit. Er konnte seinen Ärger nicht verbergen. „Er ist oben in der Farralot. Ich wollte runter nach Neunseen. Wir haben uns gestritten.“
„ Gestritten? Es muss was Ernstes gewesen sein. Deine Miene verrät großen Kummer.” Der Alte steckte seinen Stock in die Erde und ließ sich auf einem Stein nieder.
Rolo blieb stehen. So waren sie fast auf Augenhöhe. „Solomon, sind Sie schon mal belogen worden. Bei was richtig Wichtigem?“
„ Belogen? Hm, lass mich nachdenken. Mein junger Freund, wenn du mal so alt bist wie ich, gibt es kaum etwas, das dir noch nicht passiert ist. Viel Schlimmes, aber auch viel Wunderbares. Anders geht’s wohl nicht.”
„ Aber sollte ein Vater seinem Sohn nicht immer die Wahrheit sagen?“
„ Die Wahrheit? Wenn du mich so fragst, bin ich versucht, dir zuzustimmen. Weil die Wahrheit aber ein schwieriges Geschäft ist, muss ich wohl sagen, es kommt drauf an.”
„ Worauf soll es
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