Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
denn da ankommen? Lüge ist Lüge.”
„ Ist das so einfach, mein junger Freund? Ich fürchte nicht. Dein Vater liebt dich, Rolo. Mehr als du es dir vorstellen kannst. Er würde mit Drachen ringen, um dich zu beschützen. Es ist sogar seine Pflicht, das zu tun, wenn du mich fragst.”
„ Daran habe ich auch nie gezweifelt.”
„ Nie gezweifelt? Gut so. Dann lass uns doch gemeinsam überlegen, was dein Vater für eine Absicht hatte, als er dir die Wahrheit verschwieg. Kennst du die Geschichte von den Wolfsjägern?”
Rolo verneinte.
„ Nein? Gut. Ich will sie dir erzählen. Mach es dir doch etwas bequemer. Also. Vor langer Zeit lebte ein Mann mit Namen Ronan. Er hatte einen Sohn, den er Ron rief. Die beiden bewirtschafteten ein kleines Stück Land in der Einsamkeit der Berge. Ihr wertvollster Besitz waren ihre Tiere. Von ihnen bekamen sie Nahrung, Kleidung und Wärme. In einem besonders kalten Winter fanden die Tiere des Waldes nicht genug Futter unter der dichten Schneedecke. Sie starben. So gerieten die Wölfe in arge Not. Keine Beute mehr zu machen. Ihr Revier lag weit vom Hof entfernt. Doch jetzt waren sie gezwungen, sich an das Vieh von Ronan und Ron zu wagen. Ronan war außer sich vor Wut. Ron war sehr traurig. Sie hielten Wache des Nachts. Aber die hungrigen Räuber fanden ihren Weg in die Ställe und Verschläge. In größter Not beschloss Ronan, auf die Wolfsjagd zu gehen. Er wusste nicht, ob er das gesamte Rudel erlegen konnte. Aber hier ging es um das nackte Überleben. Wolf oder Mensch. Doch was sollte mit Ron passieren? Sollte er mit in die Wildnis? Oder allein auf dem Hof zurück bleiben? Ron war kein Junge mehr, aber noch längst kein Mann. Da er aber so hartnäckig bat, mitgehen zu dürfen, gab Ronan schließlich nach. Sie bewaffneten sich und marschierten los. Nach einiger Zeit kamen sie an einen Fluss. Trotz der Kälte war der nicht zugefroren. Er dampfte giftig grün und stank erbärmlich. Die einzige Brücke war eingestürzt. Ein anderer Weg hinüber nicht in Sicht. Ronan sagte seinem Sohn: „Sorge dich nicht. Das grüne Wasser ist das heiße Blut der Bäume.“ So watete er hindurch und spannte ein Seil. Ron konnte trockenen Fußes ans andere Ufer gelangen. Sie wanderten weiter. Bald klagte der junge Ron über großen Hunger. Der Proviant war nicht eben üppig. Ronan sagte seinem Sohn: „Iss ruhig auch meine Ration. Ich werde auch vom Licht der Sonne satt.“ Sie erreichten bald den Rand der Wildnis. Der Wind pfiff ihnen eisig um die Knochen. Als es gar nicht mehr aufhören wollte zu schneien, fror Ron ganz erbärmlich. Ronan sagte seinen Sohn: „Nimm ruhig auch meinen wollenen Umhang. Du kannst es zwar nicht sehen, aber ich trage einen unsichtbaren Pelz, dichter als der der Bären.“ In der Nacht entfachten sie ein Feuer und legten sich zur Ruhe. Sie wollten sich mit der Wache abwechseln. Aber als Ron an der Reihe war, sah er elend müde aus und gähnte. Ronan sagte seinem Sohn: „Schlaf du ruhig weiter. Ich kann den Schlaf der vergangenen Nacht zweimal nutzen.“ Am nächsten Morgen entdeckten sie die Wölfe. Sie dösten auf einer Waldlichtung. Es war ein starkes Rudel. Viele junge Wölfe. Doch als Ronan den ersten Pfeil vom Bogen lassen wollte, sprach der Älteste der Wölfe, der mit der grauen Schnauze: „Komm raus, Ronan. Und habe keine Angst vor unseren spitzen Zähnen.” Ronan war zu erstaunt, um dieser Aufforderung nicht nachzukommen. Ron folgte ihm. Der alte Wolf betrachtete Ronan. „Vergiftet hat dich der Fluss. Hungrig bist du, dass dein Magenknurren dich schon von Weitem verrät. Halb erfroren bist du und zitterst am ganzen Leib, dass du kaum den Bogen halten kannst. Deine Augen fallen dir zu vor Erschöpfung. Was bildest du dir ein, es mit meinem Rudel aufnehmen zu wollen?“ Da berichtete Ronan von ihrer Wanderung. Als er geendet hatte, sprach der graue Wolf: „Ein Lügner bist du, Ronan. Doch hast du zum Wohl deines Sohnes die Strapazen der Lüge auf dich genommen. Auch wir Wölfe lieben unsere Kinder. Wer für seine Lieben alles gibt, der kann unser Feind nicht sein. Kehrt nach Hause zurück. Du, dein Sohn und dein Vieh, ihr werdet uns nie mehr wiedersehen.”
Rolo schaute nachdenklich in die Sterne. „Das haben sie sich doch gerade eben ausgedacht.“
„ Hab ich das? Vielleicht“, erwiderte Solomon. „Aber schlecht war es nicht, oder?“
„ Besonders der giftige Fluss war gut“, meinte Rolo.
Sie lachten. Solomon wischte sich eine Träne aus dem
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