Der Sommer der Vergessenen (German Edition)
Kopf.
„Ab dafür!“
Am helllichten Tag wollte Rolo eigentlich nicht aufbrechen. Streng genommen war
es so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was er wollte. Es war um die
Mittagszeit, und die Straßen von Rabenstadt waren so belebt, wie es die Straßen
eines Wohngebietes in einer Kleinstadt nur sein konnten. Spielende Kinder, Rentner
auf Fahrrädern, Mütter mit Kinderwagen und Einkäufen.
„Einfach
umgefallen“, lachte Driftwood, als er auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
Rolo schaute
sich um. Niemand schien sie zur Kenntnis genommen zu haben. Anscheinend
erfüllte die Kleidung ihren Zweck. Er setzte sich eine Sonnenbrille auf, die
ihm viel zu groß war, weil sie seinem Vater gehörte, und zog ebenfalls eine
Mütze auf. Als sie ruckelnd losfuhren, kam der Krankenwagen mit quietschenden
Reifen hinter ihnen zum Stehen. Socke beobachtete durch die Heckscheibe, wie
Männer in weißer Kleidung eilig im Garten verschwanden. Er nickte zufrieden.
Schon lief die halbe Nachbarschaft zusammen. „Wenn jeder Mensch so auf uns
reagiert, wird’s doch ganz einfach“, meinte Driftwood.
Rolo, der
sich mit seiner Mütze und der Brille ein bisschen vorkam wie ein amerikanischer
Trucker, musste grinsen, und der Schreck verzog sich.
„Jungs,
macht euch mal ganz klein“, bat er.
Sie bogen
auf die Hauptstraße. Driftwood fummelte am Radio. Kotze saß zu seinen Füßen in
dem Papierhaufen, der mal die Karte gewesen war.
„Schau doch
mal, wie viel Geld im Schwein ist“, bat Rolo. Socke rüttelte und schüttelte das
Schwein, und die Münzen im Inneren klirrten und klapperten. Dann entdeckte er
den Verschluss am Bauch und kippte den Inhalt auf die Rückbank. „Nicht viel
drin. Ein paar Münzen und viel Papier.“
„Papier ist
gut“, sagte Rolo. „Papier ist sehr gut.“
Rolo lenkte
den Wagen auf die Tankstelle. Der Tankwart lehnte mit einem gekippten Stuhl an
der vergrauten Wand des Kassenhäuschens. Er trug eine Latzhose, ähnlich wie
Socke. Außer ihm war weit und breit kein Mensch zu sehen. Rolo stoppte den
Wagen vor den Zapfsäulen.
„Und denkt
dran, was ich euch gesagt habe. Driftwood, du tust so, als würdest du ganz
konzentriert die Karte lesen. Halte sie aber bitte richtig herum. Und Socke, du
schläfst. Beweg dich bloß nicht, sonst rutscht noch die Sonnenbrille runter.“
„Beruhig
dich. Und Kotze bleibt im Handschuhfach. Wir wissen Bescheid“, beschwichtige
Driftwood.
Rolo fand,
dass Socke unglaublich cool aussah mit der viel zu großen Brille mit den
verspiegelten Gläsern. Er war froh, dass er sie noch im Handschuhfach gefunden
hatte. Aber sie hatten jetzt andere Sorgen. Rolo kurbelte das Fenster runter.
Auch er trug eine Sonnenbrille und hoffte, dass sie ein wenig von seinem zu
jungen Aussehen versteckten würde. Der Tankwart kam an seine Seite. Er kaute
auf einem Grashalm. Sein Gesicht war ölverschmiert und schwitzig. Rolo bemühte
sich, seiner Stimme ein tiefes Timbre zu verleihen. „Tag“.
„Vollmachen?“,
fragte der Tankwart. Er beugte sich vornüber, und schaute in den Wagen.
„Nein, nur
für 30 Mark, bitte.“
„Das ist
doch voll, du Profi“, murmelte der Tankwart im Weggehen. Er spuckte durch eine
Lücke zwischen seinen Schneidezähnen und steckte den Zapfhahn in den Tank.
„Was ist das
denn für ein Hundehaufen“, zeterte Driftwood hinter der Karte. „Ich habe schon
für weniger getötet.“ „Schon gut“, meinte Rolo. „Wir sind gleich wieder hier
weg.“ Irgendwie glaubte er, dass Driftwoods Kommentar nicht nur ein Spruch war.
Socke hatte
den Kopf an die Scheibe gelehnt. Die Brille verbarg seine offenen Augen. War
das nicht Kotze, der da über die Tankstelle lief?
„Rolo,
schaust du mal ins Handschuhfach?“
„Nicht
jetzt. Ich will nicht, dass er Kotze sieht.“
„Da muss er
nur nach rechts gucken.“
Rolo
schreckte auf. Er sah gerade noch, wie Kotze im Kassenhäuschen verschwand.
Driftwood riss das Handschuhfach auf. Ein großes Loch klaffte an der Rückseite.
„Gut. Jetzt
nur keine Panik.“ Rolo umfasste das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel ganz
weiß wurden. „Ich geh’ gleich rein und kaufe uns ein Eis. Nichts
Ungewöhnliches.“ Er löste den Gurt und wollte gerade die Tür öffnen, als der
Tankwart wieder auftauchte.
„Macht
dreißig Mark plus Trinkgeld.“ Er streckte die offene Hand ins Innere des
Wagens. Sie roch nach Benzin.
„Ich wollte
noch kurz rein, Eis und Getränke kaufen.“ „Schön. Fahren Sie aber erst Ihren
Wagen
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