Der Sommer des Commisario Ricciardi
Alleinsein verseuchten Egoismus. Er erwähnte auch Enrica, sagte, wie unendlich weit die fünf Meter ihm erschienen, die sein Fenster von ihrem trennten. Wie sehr es ihm fehlte, ihr beim Sticken zuzusehen.
Fast traute er seinen Ohren nicht, als er sich selbst einem beinahe fremden Priester von seinen inneren Abgründen erzählen hörte. Er bremste sich jedoch rechtzeitig, bevor er auf die Toten zu sprechen kam, die ihn in seiner Einsamkeit heimsuchten.
Don Pierino wandte seinen Blick nicht von ihm ab, seine Miene verriet keinerlei Gefühlsregung. Hätte der Kommissar Mitleid darin gelesen, wäre er augenblicklich verstummt. Stattdessen hörte er den Pastor sagen:
»Sie scheinen mir Ihr eigener, unerbittlicher Gefängniswärter zu sein. Wenn ich könnte, würde ich Sie bitten, sich selbst Frieden zu geben, aber das steht nicht in meiner Macht. Niemand kann das. Doch ich möchte Ihnen etwas sagen: Es gibt keine Erlösung ohne Schmerz. Man kann sich nur befreien, wenn man weiß, dass man Fesseln trägt. Sich dessen bewusst zu werden ist der erste Schritt.«
Lange Zeit herrschte Stille zwischen ihnen. Ricciardi schaffte es nicht, die Fragen zu stellen, auf die er eine Antwort brauchte. Schließlich raffte er sich auf und sagte:
»Ich bin nicht deshalb hergekommen. Um Sie mit meinen Problemen zu langweilen. Bitte vergessen Sie es. Mein Besuch hat einen anderen Grund: Ich glaube, dass die ersten Monate für die Capeces furchtbar sein werden. Der Vater ist es nicht gewohnt, für seine Kinder zu sorgen, und der Sohn hat guten Grund, sehr zornig auf ihn zu sein. Daher bitte ich Sie, der Familie beizustehen. Sie sind der einzige Mensch, den ich kenne, der das tun könnte. Bitte betrachten Sie es als eine Art persönlichen Gefallen.«
Don Pierino seufzte und schwieg. Dann sagte er lächelnd:
»Seien Sie unbesorgt, Commissario. Das ist mein Beruf, und danke für den Hinweis. Im Gegenzug möchte ich Sie allerdings auch um etwas bitten. Sie dürfen es mir auf keinen Fall abschlagen.«
Ricciardi sah ihn fragend an.
»Nur heraus mit der Sprache. Ich schulde Ihnen was, allein schon dafür, dass Sie mir heute Abend zugehört haben.«
»Das war das schönste Geschenk, das Sie mir machen konnten. Und ich warte gespannt auf die Fortsetzung Ihrer Geschichte. Sie wissen ja, wir Priester sind neugierig. Der Gefallen, den Sie mir tun sollen, betrifft etwas anderes. Kennen Sie das ›Nzegna-Fest‹?«
Ricciardi verneinte.
»Es ist kein kirchliches Fest. Man feiert es in der Vorstadt, in Santa Lucia: Ein Volksfest mit wirklich vergnüglichen Bräuchen. Allerdings beginnt es mit einem Gottesdienst, um an den Fund der Madonna della Catena zu erinnern, ein antikes Bild, das in der gleichnamigen Kirche in Santa Lucia aufbewahrt wird. Die Messe ist nächstenSonntag um zwölf Uhr mittags. Dieses Jahr werde ich sie lesen, ich bin gerade mit der Predigt fertig geworden. Es würde mich sehr freuen, Sie dort zu sehen.«
Ricciardi konnte dem Mann schlecht etwas abschlagen, nachdem er ihn gerade erst gebeten hatte, sich um die Familie Capece zu kümmern. Das hieß um diejenigen, die davon übrig blieben.
»In Ordnung, Pater. Am Sonntag habe ich frei, weil ich letztes Wochenende Dienst hatte. Ich werde kommen.«
Der Priester klatschte glücklich in die Hände.
»Oh, sehr gut, Commissario. So gefallen Sie mir! Eine Menge Leute werden da sein, es wird gesungen und getanzt werden. Gönnen Sie sich ausnahmsweise einmal ein Vergnügen. Und noch etwas: Denken Sie daran, dass der Mensch nicht nur bereut, sondern auch bedauert, was noch schlimmer ist. Lassen Sie es sich von jemandem gesagt sein, der im Beichtstuhl von morgens bis abends Leuten zuhört, die Gott um Vergebung bitten für etwas, das sie sich selbst nicht verzeihen. Wenn es im Leben einmal notwendig ist, die Initiative zu ergreifen, sollte man es auch tun. Damit man sich danach nicht all die verbleibenden Jahre fragt, was geschehen wäre, wenn man nur ein wenig Mut gehabt hätte.«
Ricciardi stand auf. Er schien antworten zu wollen, machte den Mund dann aber wieder zu. Schließlich sagte er:
»Sie wissen nicht alles, Pater. Es gibt Dinge … Gründe, die mir bestimmte Schritte verbieten. Belassen wir es dabei. Ich sagte schon, vergessen Sie meine Faseleien von heute Abend. Vielleicht bin ich bloß müde, die Ermittlungen waren diesmal nicht leicht. Wir sehen uns am Sonntag.«
XLII Als Ricciardi am nächsten Morgen ins Präsidium kam, war er bereit, sich dem Gefühl zu stellen,
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