Der Sommer des Commisario Ricciardi
das ihn jedes Mal beim Abschluss einer Mordermittlung überkam: einer Mischung aus Trauer, Enttäuschung und Wut.
Vor seinen Augen erschien das Bild des Opfers, wie er es zu sehen verdammt war. Er sah Adriana, stolz und schön selbst noch im Tod, das Einschussloch zwischen ihren Augen, die Arme, die am Körper herabhingen. Und hörte den zwanghaft sich wiederholenden Satz:
»Der Ring, der Ring, du hast den Ring weggenommen.«
Letztendlich war es also um den Ring gegangen, den Capece Adriana im Theater vom Finger gerissen hatte. Offensichtlich hatte die Herzogin Sofia erkannt, und ihr Gedächtnis hatte eine Verbindung zu dem Schmuckstück der Mörderin hergestellt, bevor die Kugel diesem und allen anderen Gedanken ein Ende setzte.
Und doch, überlegte Ricciardi, hatte jemand der bereits toten Herzogin einen zweiten Ring entwunden. Außerdem war in Modos Befund von Spuren der Gewalt am Körper der Toten die Rede, wie nach einem Handgemenge, das Sofia Capece jedoch nicht erwähnt hatte. Nun war die Frau zwar verrückt: Vielleicht war dem Revolverschuss ein Kampf vorausgegangen, den die Irre gewonnen und dann verdrängt hatte, oder vielleicht hatte sie diesen Teil der Geschichte einfach nicht erzählen wollen.
Nach einem leichten Klopfen öffnete sich die Tür und Maione trat ein.
»Guten Tag, Commissario. Wie geht’s Ihnen heute Morgen? Immer noch dieselbe Hitze draußen! Protokollieren Sie gerade das Geständnis?«
Ricciardi grüßte den Brigadiere mit einem Kopfnicken.
»Ja, ich schreib’s gerade. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr tut’s mir leid um die beiden Kinder, denen schon der Vater abhandengekommen ist. Und jetzt auch noch die Mutter.«
Maione zuckte mit den Schultern.
»Ja, ich weiß, das ist traurig, Sie haben völlig recht. Aber irgendjemand musste die Herzogin ja ermordet haben. Ich hatte schon Sorge, dass es der Junge gewesen sein könnte.«
Ach ja, dachte Ricciardi: Andrea. Ein starker, kräftiger junger Mann, der seiner Mutter bei dem Mord durchaus geholfen haben könnte. Vielleicht hatte sie ihn gedeckt oder sogar vergessen, dass er dabei gewesen war. Könnte schon sein.
Er wollte Maione gerade antworten, als sich die Tür öffnete: Herein kam ein euphorischer und parfümierter Garzo, gefolgt von Ponte, der abwechselnd zu Boden und zur Decke schaute.
»Bravo, Ricciardi, sehr gut, wirklich ausgezeichnet! Ein Geniestreich, muss ich sagen, in der Tat genial. Auch Ihnen meine Anerkennung, Maione.«
Ricciardi hielt noch die Feder in der Hand, als er zu Garzo aufschaute; Tinte tropfte auf das Protokoll.
»Wie das, Dottore? Ein Geniestreich, sagen Sie? Ich habe doch nichts Außergewöhnliches getan.«
Garzo dachte nicht im Traum daran, sich seinen Enthusiasmus nehmen zu lassen.
»Ich sagte Geniestreich und dabei bleibe ich! Sie haben keine Ahnung, wie besorgt wir waren, der Präsident und ich. Wir fürchteten, es könnte sich herausstellen, dass jemand aus der eigenen Familie die Herzogin umgebracht hat – eine der wichtigsten Familien der Stadt! Womöglich der Sohn, Gott behüte, von dem es heißt, er habe Freunde, die … nun, nicht wichtig. Oder auch, dass es Capece war, ein geschwätziger und vielleicht sogar regimekritischer Reporter. Er hätte uns sicher von seinen Kollegen attackieren lassen, die ja nur auf eine solche Gelegenheit warten. Und wen nageln Sie fest? Seine Frau! Das bedeutet, dass er sich klein halten muss, seine Freunde können ihn bloß bemitleiden und die Familie Camparino geht unversehrt aus dieser Sache hervor. Gut gemacht, Ricciardi! Wir sind wieder einmal stolz auf Sie!«
Maione stieß ein feines Zischen aus, wie ein Dampfkessel mit zu viel Druck. Ricciardi antwortete frostig:
»Schön, dass es Sie freut, Dottore, dass eine Frau nun tot ist und eine weitere, die Mutter zweier Kinder und eine treue Ehefrau, vielleicht lebenslang in eine psychiatrische Haftanstalt gesperrt werden wird. Ich bin froh, dass es für Sie eine Erleichterung ist, dass zwei Familien für immer zerstört sind und jahrelang Schande an ihren Namen haften wird. Und es tut mir leid, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass nicht wir uns diese Lösung ausgedacht haben, sondern dass sie einer kranken und verzweifelten Leidenschaft entsprungen ist.«
Tiefes Schweigen folgte den Worten des Kommissars. Durchs offene Fenster ertönte das Signal eines ablegenden Schiffes. Ponte war fast violett geworden und betrachtete aufmerksam einen Kratzer an der Wand. Garzo schluckte und wandte
Weitere Kostenlose Bücher