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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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voran, nicht wahr, aber dieser Gimmy Jimmy ergriff also das Wort, er nahm mir die Worte aus dem Mund: »Wir sind alle Fußmatten!«, sagte er. »Die schönsten Fußmatten der Welt! Und in dem Moment erlebte ich einen Augenblick, einen großen, alles umfassenden Augenblick von Erleichterung, befreiend in all seiner Reinheit, ich war Herr über die Gedanken und die Zeit in diesem weichen, biegsamen Augenblick, in dem ich die Wirklichkeit zu meinem Vorteil drehen konnte, und ich war derjenige, der zu Boden fiel, nicht die Worte, nicht das, was ich sagen wollte, ich war es, der zu Boden fiel, und ich legte mich nicht in den Staub, ich kniete nur, und das war doch ein gewisser Unterschied, ich lag in diesem Wohnzimmer ohne Fenster in Sheppard P, dem großen Fundbüro für verlorene Seelen, auf den Knien, und ich wollte von der Scham sprechen, es war die Scham, die ich auf dem Herzen hatte, meine uralte Scham, die mich durch dick und dünn verfolgt hatte, ein Feind in Dick und Dünn, seit ich bewusst denken kann, das heißt seit dem Moment, in dem ich wusste, dass ich sterben werde, denn kein Gedanke ist selbstständig, bevor du weißt, dass du sterben wirst, dass du vergänglich bist wie die Blumen in der kostbaren Vase, dass die Vase dich überleben wird, ich wollte von dieser Scham sprechen und sagen, dass ich hier, hier im Kanonenverein von Baltimore, keine Scham fühlte, sondern Verantwortung, und Verantwortung ist das Gegenteil von Scham. Glaubt ihr mir? Kann ich euch diese Worte verkünden? Ich konnte sie nicht aussprechen, denn meine Freunde, meine Mitverschworenen, wir, die auf der The never ending fake it till you make it-Tour waren und es immer noch sind, hoben mich von dem Punkt hoch, auf dem auch sie gekniet hatten, ohne dass es einen einzigen Gott gegeben hätte, ihn anzubeten, als sich selbst und seine Freunde, was wir sind, was wir sind, dachte ich, während sie mich hochzogen, meine Freunde, was wir sind.
    Es gibt fast nichts mehr, worüber ich das Recht habe zu schweigen.
    Nur das: Am nächsten Tag sollte ich den äußersten Flügel der Angst und Verängstigung besuchen. Das wurde Exponieren genannt. Mein Bild sollte entwickelt werden. Alle schlossen an diesem Morgen ganz leise die Türen, denn alle wussten, was auf mich zukam. Sie hatten das Gleiche schon durchgemacht. Tinker Taylor klopfte mir auf die Schulter, obwohl es uns nicht erlaubt war, einander zu berühren. Bill ging schweigend mit mir zwischen den Eichen entlang. Die Eichhörnchen hockten still auf den Zweigen. Es sah aus, als putzten sie sich die ganze Zeit die Nase. Die Eichhörnchen weinten um mich. Bill blieb stehen und zog sich die Sandalen aus. Dann kletterte er auf den Gipfel der höchsten Eiche, ohne ein einziges Eichhörnchen zu wecken, ohne irgendetwas zwischen Himmel und Erde zu stören. Selbst die Hummeln blieben daheim. Dann kam er schließlich wieder hinunter, die Taschen voll mit Wolken, und ging zusammen mit mir das letzte Stück zu dem, was nur der Anfang vom Rest meines Todes ist.
    Dieses Mal saß Dr. Feel auf einem schwarzen Sofa. Mir fiel auf, dass alle Möbel jetzt schwarz waren. Hatten sie sie aus diesem Anlass neu bezogen? Ich wollte danach fragen, aber Dr. Feel kam direkt zur Sache. Er wollte wissen, wer mir am nächsten stand. Ich berief mich auf die Schweigepflicht. Ich verlangte, über alle anderen außer mir selbst schweigen zu dürfen. Viel zu lange hatte ich meine Nächsten ausgeliefert. Jetzt büßte ich meine Strafe ab. Sie war verdient und ohne Bewährung. Jetzt war ich an der Reihe. Das war das einzig Richtige. Jetzt war ich derjenige, der an der Reihe war. Der Zeitpunkt war gekommen. »Wer steht Ihnen am nächsten?«, wiederholte Dr. Feel. Ich hätte antworten können, Iver Malt, der Junge, den ich im Stich ließ, der mir im Laufe von ein paar Wochen in einem Sommer, fast der unterste im Stapel all meiner Sommer, zeigte, wer ich war; einer, auf den man sich nicht verlassen kann. Er stand mir immer noch nahe, ganz gleich, wo er war, ganz gleich, auf welchem Meer, so war er doch in meinen Gedanken, in meinen wachen wie in meinen nächtlichen Träumen, oder in meiner unsichtbaren Schrift, mit der meine besten Bücher geschrieben sind. Ich hätte Heidi nennen können, irgendein Mädchen, das in meinem Leben auftauchte, als dieses Leben noch so kurz war, dass ein Tropfen, ein Blick mich aus der Bahn werfen konnte, das Mädchen, das zu küssen ich mir hoch und heilig geschworen hatte, koste es, was es wolle, doch

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