Der Sommermörder
Priorität hat Ihre Sicherheit. Meiner Meinung nach sollten wir in dieser Hinsicht keine Risiken mehr eingehen. Die Alternative wäre, dass Sie dieses Haus vorübergehend verlassen und sich von uns an einen sicheren Ort bringen lassen.«
Ich hatte das Gefühl, als würde tief in meinem Magen gleich ein Vulkan ausbrechen. Der zweite Vorschlag war noch schlimmer, sodass ich schließlich zähneknirschend dem ersten zustimmte. Auf meine Frage, bis wann er die Leute aus dem Haus haben wollte, antwortete er, sofort, auf der Stelle. Ich stapfte also wie der Rausschmeißer eines Nachtclubs durchs Haus und forderte alle in forschem Ton auf, die Baustelle zu verlassen.
Anschließend verbrachte ich eine schreckliche Stunde damit, alle möglichen Leute anzurufen und zu versuchen, meinen verblüfften Gesprächspartnern die Lage halbwegs plausibel zu erklären und dann vage Vereinbarungen für die Zukunft zu treffen.
Nun kippte ich den Rest meines Gin Tonic hinunter, stieg aus der Wanne und wickelte mich in ein großes, weiches Badetuch. Die Luft im Badezimmer war so schwül und feucht, dass ich meine Haut nicht trocken bekam, egal, wie sehr ich auch rubbelte. So ging ich schließlich ins Schlafzimmer hinüber. An den Türen der Einbauschränke waren große Spiegel angebracht.
Eigentlich hätten sie nächste Woche entfernt werden sollen. Ich stellte mich vor einen und sah mir dabei zu, wie ich erst mein Haar und dann meinen Körper trocken zu reiben versuchte. Die Abendluft war noch immer so warm, dass ich die Feuchtigkeit auf meiner Haut einfach nicht los wurde, sodass ich schließlich das Handtuch auf den Boden warf und mein nacktes Spiegelbild betrachtete.
Normalerweise tat ich das so gut wie nie, zumindest nicht nackt und ohne Make-up.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, diesen Körper nicht zu kennen, ihn zum ersten Mal zu sehen und attraktiv zu finden. Ich kniff die Augen zusammen und legte den Kopf zur Seite. Es war gar nicht so leicht, sich in diese Situation hineinzuversetzen. Vermutlich geht das allen so, die schon lange verheiratet sind, miteinander Kinder haben und auf viele Jahre harter Arbeit zurückblicken: Irgendwann fühlt man sich nur noch wie ein Teil des Inventars, ein Ding, das einem gar nicht mehr auffällt, es sei denn, etwas stimmt nicht mit ihm.
Vielleicht ist das auch der Grund, warum einem andere Sachen – oder andere Leute – oft viel interessanter erscheinen. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie es gewesen war, als Clive und ich uns zum ersten Mal … na ja, auf diese Weise gesehen hatten, aber komischerweise gelang es mir nicht. Dabei wusste ich noch ganz genau, wann wir das erste Mal miteinander geschlafen hatten. In seiner Wohnung in Clapham. Ich konnte mich noch an sämtliche Einzelheiten erinnern: welches Theaterstück wir uns vorher angesehen, was wir hinterher gegessen hatten, ja sogar, was ich angehabt und wie er es mir ausgezogen hatte, aber wie es gewesen war, zum ersten Mal die nackte Haut des anderen zu spüren … das wusste ich nicht mehr.
Vorher hatte ich nur eine einzige ernsthafte Beziehung gehabt. Na ja, einigermaßen ernsthaft, zumindest für mich.
Er war Fotograf und hieß Jon Jones. Mittlerweile ist er ziemlich berühmt. Man liest seinen Namen in Harper’s und Vogue.
Damals fotografierte er meine Hände für eine Nagellackwerbung, und eins führte zum anderen. Was das Thema Sex betraf, war ich recht unsicher. Ich wusste nicht genau, was von mir erwartet wurde, und machte im Grunde nur das, wozu er mich aufforderte. Rückblickend kann ich gar nicht mehr sagen, ob das Ganze damals wirklich so aufregend war, aber nun, nach all den Ehejahren, war allein schon der Gedanke daran – an ihn –
aufregend.
Ich befand mich fast in einer Art Trance, als mir plötzlich bewusst wurde, dass ich bei angeschaltetem Licht, offenen Fenstern und Vorhängen im Zimmer stand.
Rasch ging ich hinüber, um die Vorhänge zuzuziehen, hielt dann aber mitten in der Bewegung inne. Was machte es eigentlich, wenn mir jemand zusah? War das wirklich so schlimm? Einen Moment lang blieb ich am Fenster stehen. Ein warmer Wind wehte herein. Was hätte ich jetzt für ein paar Atemzüge kühle Luft gegeben! Da es viel zu heiß war, um das Fenster zu schließen, beschränkte ich mich darauf, das Licht auszuschalten.
Dann ging ich zum Bett hinüber und legte mich auf den Rücken, ohne mich zuzudecken. Sogar ein dünnes Leintuch wäre eine Qual gewesen. Ich berührte Stirn und Brüste. Die
Weitere Kostenlose Bücher