Der Sommermörder
einem kleinen Schnurrbart und einem radikalen Kurzhaarschnitt.
Höchstwahrscheinlich schwul. »Harry Hintlesham, das war dein Stichwort! ›… met by moonlight, proud Titania.‹
Wenn Roley das sagt, solltest du dich schon in Bewegung setzen.«
Harry stolperte auf die Bühne, fiel dabei fast über sein Kleid.
»›What, jealous Oberon‹«, murmelte er leise. Sein Haar wirkte schweißnass. »›Fairies, skip off, I have long –‹«
»›Skip hence‹!«, brüllte der Schnurrbartmann. »Nicht
›off‹ Junge, ›hence‹, und sprich um Himmels willen lauter! Für heute hören wir sowieso auf mit dem Proben, ich kann nicht zulassen, dass eure Eltern es in dieser Phase zu sehen bekommen. Das Stück wird erst Weihnachten fertig sein. Und weil wir gerade von euren Eltern sprechen, deine schöne Mutter ist eingetroffen, Titania.
Skip hence! Guten Abend, Mrs. Hintlesham. Welch Glanz in unsrer Hütte!«
»Guten Abend.«
»Versuchen Sie bitte, Ihren Sohn dazu zu bringen, dass er seinen Text lernt.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Und vielleicht können Sie ihn auch dazu überreden, ein Deo zu benutzen, ja?«
Sie ist tot. Natürlich ist sie tot. Genau, wie ich es wollte.
Trotzdem fühle ich mich um sie betrogen. Natürlich.
Vergiss es. Auf ein Neues. Eine neue Frau.
Sie trägt zu viel Make-up. Die Schminke schmiegt sich wie eine Maske über ihr Gesicht. Alles an ihrem Gesicht wirkt glänzend und gepflegt – schimmernde Lippen, dunkle Wimpern, cremegesättigte Haut, exakt geschnittenes, glänzendes Haar. Sie ist wie ein Bild, das ständig ausgebessert und überarbeitet wird. Eine Fassade, die sie der Welt präsentiert. Vor mir aber kann sie nichts verbergen. Ich stelle mir ihr abgeschminktes Gesicht vor.
Die Falten um ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund. Ihre bleichen, weichen, nervösen Lippen.
Wenn sie die Straße entlanggeht, betrachtet sie in den Schaufenstern ständig ihr Spiegelbild, um zu überprüfen, ob noch alles an Ort und Stelle ist. Dabei wirkt sie immer wie aus dem Ei gepellt. Ihre Sachen sind gebügelt, ihr Haar liegt wie eine Kappe um ihren Kopf. Ihre Nägel sind manikürt und in einem hellen Rosaton lackiert. Ihre Zehennägel sind ebenfalls rosa, und ihre Füße stecken in teuren Sandalen. Die Haut an ihren Beinen ist glatt. Sie hält sich gerade, die Schultern zurück und das Kinn hoch.
Sie wirkt frisch und gepflegt, energisch und entschlossen.
Doch der Eindruck täuscht. Ich habe sie beobachtet. Ich sehe hinter ihr Lächeln, das kein wirkliches Lächeln ist.
Wenn man ganz genau hinhört, merkt man, dass ihr Lachen gezwungen klingt, eine Spur zu schrill. Sie ist wie eine Geigensaite, die zu stark gespannt worden ist. Sie ist nicht glücklich. Wäre sie glücklich oder außer sich vor Angst oder Lust, sähe sie bestimmt sehr schön aus. Dann wäre sie von ihrer harten Schale befreit und könnte ihr wahres Ich entfalten. Ihr ist nicht bewusst, dass sie unglücklich ist. Das weiß nur ich. Nur ich kann in sie hineinsehen und sie befreien. Sie wartet auf mich, versiegelt in ihrem Innern, noch unberührt von der Welt.
Das Glück ist mir hold, das weiß ich inzwischen.
Anfangs habe ich nicht begriffen, dass ich unsichtbar geworden bin. Niemand kann mich sehen. Ich kann endlos weitermachen.
5. KAPITEL
s ist schon sehr spät, aber noch immer unerträglich heiß. Obwohl ich oben alle
E
Fenster geöffnet habe, ist
der Wind, der hereinbläst, so warm, als wäre er über eine Wüste hinweggefegt. Clive ist noch nicht da. Seine Sekretärin, Jan, hat angerufen und zu Lena gesagt, dass er erst sehr spät nach Hause kommen werde. Nun ist es sehr spät, und er ist noch immer nicht da. Wie üblich habe ich ihm ein paar Sandwiches in den Kühlschrank gelegt. Eines davon habe ich selbst gegessen.
Im Haus ist es jetzt ganz still. Lena ist ausgegangen.
Weiß der Himmel, was sie macht und wie lange. Die Jungs schlafen. Kurz nach elf habe ich einen Blick in ihre Zimmer geworfen und das Licht ausgeschaltet. Sogar Josh war schon eingeschlafen, erschöpft von einem anstrengenden Abend am Telefon. Alles, was zu tun war, ist erledigt. Ich habe sogar schon angefangen, für Josh und Harry zu packen, die morgen in ihr Feriencamp fliegen.
Deswegen, aber auch aus anderen Gründen, wird es in den nächsten Wochen im Haus sehr ruhig sein.
Normalerweise bin ich nicht besonders scharf auf Alkohol. Clive ist ein großer Weinkenner, aber mir persönlich ist das nicht so wichtig. Würde ich allein leben, wäre das
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