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Der Spieler (German Edition)

Der Spieler (German Edition)

Titel: Der Spieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Pacigalupi
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Inzwischen wusste sie es besser. Stephen hatte weit größere Geheimnisse gehabt als das alberne Flötenmädchen – größere, als irgendjemand geahnt hatte. Sie spielte mit der winzigen Phiole, strich über die glatte Oberfläche und dachte an die bernsteinfarbenen Tropfen darin. Sie vermisste Stephen schon jetzt.
    Das Geräusch von Schritten drang in ihr Versteck. Metall kratzte über Stein. Das Flötenmädchen spähte durch einen schmalen Spalt aus ihrer behelfsmäßigen Festung hinaus. Unter ihr befand sich die Speisekammer des Schlosses, ein einziges Durcheinander unterschiedlichster Säcke mit Mehl, Zucker, Tee und anderem. Mirriam suchte wieder nach ihr, und zwar hinter den gekühlten Champagnerkisten für Belaris Party heute Abend. Die Kisten zischten und dampften, als Mirriam versuchte, sie beiseitezuschieben, um in die dahinter liegenden dunklen Winkel spähen zu können. Das Flötenmädchen kannte Mirriam aus ihrer Kindheit im Dorf, als sie beide kleine Mädchen gewesen waren. Heute jedoch waren sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht.
    Mirriam war gewachsen, hatte Brüste bekommen, ein breiteres Becken, und ihr rosiges Gesicht schien ob dieses Glücks stets fröhlich zu lächeln. Als sie Belari erstmals vorgestellt wurden, waren sie gleich groß gewesen. Aber aus Mirriam war mittlerweile eine erwachsene Frau geworden, ganze sechzig Zentimeter größer als das Flötenmädchen, und mit einer Figur, an der die Männer Gefallen fanden. Und sie war Belari treu ergeben – eine gute Dienerin. Stets lächelnd und zufrieden mit ihrem Los. Sie alle waren so gewesen, als sie vom Dorf hoch zum Schloss geschickt worden waren: Mirriam, das Flötenmädchen und ihre Schwester Nia. Dann hatte Belari beschlossen, die beiden zu Flötenmädchen zu machen. Mirriam durfte wachsen, aber die Flötenmädchen würden Stars werden.
    Mirriam entdeckte einen großen Stapel aus Käse und Schinken, der in einer Ecke achtlos aufgetürmt war. Das Flötenmädchen schaute zu, wie sie sich anschlich, und lächelte über den Verdacht des drallen Mädchens. Mirriam hob ein großes Rad dänischen Käse hoch und lugte in die Lücke dahinter. »Lidia? Bist du da?«
    Das Flötenmädchen schüttelte den Kopf. Nein, dachte sie. Aber du hast gut geraten. Vor einem Jahr wäre ich noch dort gewesen. Ich hätte den Käse, wenn auch mit einiger Mühe, bewegen können. Der Champagner aber wäre mir zu schwer gewesen. Hinter dem Champagner hätte ich mich nie versteckt.
    Mirriam stand wieder auf. Ein leichter Schweißfilm hatte sich auf ihre Haut gelegt, so sehr hatte sie sich angestrengt. Ihr Gesicht glich einem auf Hochglanz polierten Apfel. Sie wischte sich mit einem Ärmel über die Stirn. »Lidia, Madame Belari wird sehr wütend sein. Du bist ein selbstsüchtiges Mädchen. Nia wartet schon im Übungsraum auf dich.«
    Lidia nickte stumm. Ja, natürlich war Nia im Übungsraum. Sie war die brave Schwester. Lidia war die Ungezogene. Diejenige, nach der sie suchen mussten. Lidia war der Grund, warum beide Flötenmädchen bestraft wurden. Belari hatte es aufgegeben, Lidia selbst zu maßregeln. Stattdessen beschied sie sich damit, beide Schwestern zu bestrafen und die Schuldgefühle ihr Übriges tun zu lassen. Manchmal war sie damit erfolgreich. Heute jedoch nicht. Denn Stephen war fort. Lidia brauchte jetzt etwas Ruhe. Einen Ort, an dem sie niemand beobachtete. Wo sie für sich allein sein konnte. Ihr Geheimversteck, das sie Stephen gezeigt und das er mit einem überraschten Blick aus traurigen Augen begutachtet hatte. Stephen hatte braune Augen gehabt. Wenn er sie damit angeschaut hatte, war ihr sein Blick immer ebenso sanft erschienen wie der von Belaris Kaninchen. Seine Augen waren wie ein sicherer Hafen gewesen. Man konnte sich bedenkenlos in diese braunen Augen fallen lassen, ohne sich jemals sorgen zu müssen, einen Knochen zu brechen.
    Mirriam ließ sich auf einen Sack Kartoffeln fallen und schaute sich wütend um. »Du bist ein egoistisches kleines Mädchen«, sagte sie, ihrem unsichtbaren Publikum zugewandt, »ein böses, selbstsüchtiges Mädchen, und wir müssen alle nach dir suchen.«
    Das Flötenmädchen nickte. Ja, ich bin ein selbstsüchtiges Mädchen, dachte sie, und du bist eine Frau, und doch sind wir gleich alt, und noch dazu bin ich gerissener als du. Du magst klug sein, weißt aber nicht, dass die besten Verstecke dort sind, wo niemand sucht. Du schaust darunter und dahinter nach mir und auch dazwischen, aber oben suchst du nicht.

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