Der Spieler (German Edition)
Ich bin über dir, und ich beobachte dich, genauso wie Stephen uns alle beobachtet hat.
Mirriam verzog das Gesicht und stand auf. »Na wenn schon. Burson wird dich finden.« Sie klopfte sich den Staub von den Röcken. »Hast du mich gehört? Burson wird dich finden.« Und damit verließ sie die Vorratskammer.
Lidia wartete, bis Mirriam sich entfernt hatte. Es ärgerte sie, dass Mirriam recht hatte. Burson würde sie finden. Er fand sie immer, wenn sie zu lange wartete. Ihre Ruhepausen waren stets begrenzt. Sobald Belari die Geduld verlor und die Bluthunde rief, war wieder ein weiteres Versteck verloren.
Ein letztes Mal rollte Lidia Stephens winziges Glasfläschchen zwischen den zarten Fingern hin und her. Ein Abschiedsgeschenk, wie sie inzwischen begriffen hatte, nachdem er fort war und sie nie wieder trösten würde, falls Belaris Zumutungen ihr wieder einmal unerträglich wurden. Sie kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder. Zum Weinen blieb keine Zeit mehr. Burson würde sie suchen kommen.
Nachdem sie den Flakon sicher in einer kleinen Ritze verstaut hatte − eng am Stein zwischen dem unbehandelten Holz der Regalbretter, auf denen sie sich versteckte −, ruckelte und zerrte sie an dem Einmachglas mit roten Linsen, das neben ihr stand. Als die Öffnung groß genug war, zwängte sie sich hinter der Wand aus Hülsenfrüchten hervor, die die oberste Regalreihe der Speisekammer säumte.
Lidia hatte Wochen gebraucht, bis sie die hinteren Gefäße weggeräumt und Platz für sich geschaffen hatte, aber dafür waren die Vorratsbehälter ein wirklich gutes Versteck. Ein Ort, den die anderen bei ihrer Suche übersahen. Sie besaß eine Festung aus Gläsern, gefüllt mit flachen, unverdächtigen Bohnen; und wenn sie geduldig war und die Strapaze aushielt, konnte sie stundenlang hinter dieser Barriere kauern. Lidia kletterte nach unten.
Vorsichtig, vorsichtig, ermahnte sie sich. Wir wollen uns schließlich keine Knochen brechen. Wir müssen vorsichtig sein mit diesen Knochen. Am Regal hängend schob sie das dicke Glas roter Linsen behutsam zurück an seinen Platz, bevor sie über die unteren Regalreihen bis zum Fußboden hinunterkletterte. Lidia stand barfuß auf den kalten Steinfliesen und blickte zu ihrem Geheimversteck empor. Ja, sah immer noch gut aus. Stephens letztes Geschenk war dort oben sicher aufgehoben. Niemand schien klein genug, um sich durch diese winzige Lücke zu schlängeln, nicht einmal ein feingliedriges Flötenmädchen wie sie. Niemand würde vermuten, dass sie so biegsam war, dass sie dort hineinpasste. Sie war so schmächtig wie eine Maus und manchmal selbst überrascht davon, wo sie überall Platz fand. Das hatte sie Belari zu verdanken. Entschlossen, sich erst weit entfernt vom letzten ihr verbliebenen Versteck fangen zu lassen, wandte sie sich um und eilte aus der Speisekammer.
Als Lidia es bis in den Speisesaal geschafft hatte, schöpfte sie Hoffnung, unentdeckt zu den Übungsräumen gelangen zu können. Dann würde sie vielleicht einer Strafe entgehen. Belari war gut zu denen, die sie liebte, aber wer sie enttäuschte, konnte nicht auf Nachsicht hoffen. Zwar war Lidia für Schläge zu zerbrechlich, aber Belari hatte andere Möglichkeiten. Lidia dachte an Stephen. In gewisser Hinsicht war sie froh darüber, dass er Belaris Folter entkommen war.
Lidia glitt an der äußeren Wand des Speisesaals entlang, die von Farnen und blühenden Orchideen abgeschirmt wurde. Zwischen den üppigen Blättern und Blüten hindurch erhaschte sie flüchtige Blicke auf den langen Mahagoni-Esstisch, der von der Dienerschaft jeden Tag spiegelblank poliert wurde und stets mit glänzendem Silber gedeckt war. Sie suchte den Raum nach Beobachtern ab. Er war leer.
Der durchdringende feuchtwarme Duft der Grünpflanzen erinnerte sie an den Sommer, obwohl draußen in den Bergen rund um das Schloss noch ein strenger Winter wütete. Als sie und Nia jünger gewesen waren, vor ihren Operationen, waren sie gemeinsam unter Pinien durch diese Gebirgslandschaft gelaufen. Lidia bahnte sich einen Weg durch die Orchideen: eine aus Singapur, eine aus Chennai – und eine, von Belari selbst gezüchtet, war gestreift wie ein Tiger. Sie berührte die zarte Blüte und bewunderte die grellen Farben.
Wir sind wunderschöne Gefangene, dachte sie. So wie ihr.
Die Farne zitterten. Aus dem Grün stürzte plötzlich wolfsgleich ein Mann auf sie zu. Packte sie an den Schultern. Finger gruben sich in Lidias blasses Fleisch, bis sie laut
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