Der Spieler (German Edition)
viel Verwirrung wegen des Mannes, der da drin lebte. Er wog den Würfel in der Hand. Er war leicht. Zu leicht, als dass ein Mensch darin Platz finden könnte. Dann erinnerte er sich an die kurze Unterhaltung mit dem Dalai Lama, in jenem dunklen Raum, der nur vom Widerschein der Monitore erhellt gewesen war. Er schloss die Faust fest um den Würfel und trat an den Rand des Schachts. Chengdu lag ihm zu Füßen.
Er holte aus, wie um zu werfen. Streckte den Arm weit nach hinten, um den Dalai Lama in seiner Siliziumhülle ins Nichts hinauszuschleudern. Erst würde er einen Bogen beschreiben und dann fallen, immer schneller hinabstürzen, bis er auf dem weit entfernten Boden zerschellen und frei sein würde. Dann könnte er wieder in den Kreislauf der Wiedergeburten eintreten. Noch hielt er den Arm ausgestreckt, ließ ihn dann in Flugrichtung nach vorne schnellen. Als der Arm sich wieder senkte, lag der Datenwürfel mitsamt dem Dalai Lama jedoch noch immer wohlbehütet in seiner Handfläche. Glatt und blau und unbeschädigt.
Er dachte nach. Dann ließ er ihn zurück in seine Tasche gleiten und schwang sich erneut auf Huojianzhus Außenhaut. Mit einem Lächeln bohrte er dabei die Finger tief in das lebendige Fleisch des Gebäudes und stieg weiter nach unten. Fragte sich, wie lange er wohl noch klettern musste, und ob er es heil bis auf die Straßen hinab schaffen oder als blutiger Klumpen enden würde. Chengdu schien unendlich weit unter ihm zu liegen.
Der Würfel ruhte in seiner Tasche. Wenn er jetzt abrutschte, würde er zerbrechen, und der Dalai Lama wäre frei. Und wenn er überlebte? Dann würde er ihn erst einmal behalten. Ihn vielleicht später noch zerstören. Da der Dalai Lama im Innern des Würfels schlief, machte es ihm sicher nicht besonders viel aus, etwas länger zu warten. Und wer außer ihm, wer von all diesen wichtigen Menschen auf der ganzen Welt konnte schon von sich behaupten, den Dalai Lama in der Tasche zu haben?
Das Flötenmädchen
Das Flötenmädchen kauerte im Dunkeln und hielt mit ihren kleinen blassen Händen Stephens letztes Geschenk umklammert. Madame Belari erwartete sie bestimmt schon. Die Dienstboten würden wie eine Meute wilder Hunde überall im Schloss herumschnüffeln, bis sie ihre Witterung aufgenommen hatten: unter Betten, in Schränken und hinter den Weinregalen. Belari kannte keines der Verstecke des Flötenmädchens. Stets waren es die Bediensteten, die sie aufspürten. Belari wandelte einfach weiter die Flure entlang und überließ das Suchen den anderen. Die Bediensteten glaubten, all ihre Schlupfwinkel zu kennen.
Das Flötenmädchen verlagerte ihr Gewicht. Die unangenehme Haltung hatte ihr zerbrechliches Knochengerüst bereits zu sehr beansprucht. Sie reckte sich, so gut das in dem beengten Raum ging, machte sich dann wieder ganz klein und stellte sich vor, sie wäre eines der Kaninchen, die Belari in der Küche in Käfigen hielt: Klein und weich und mit freundlichen, feucht glänzenden Augen konnten sie stundenlang einfach nur dasitzen und warten. Das Flötenmädchen ermahnte sich zur Geduld und schenkte dem wehen Widerspruch ihres gekrümmten Körpers keine Beachtung.
Wenn sie sich nicht bald blicken ließ, würde Madame Belari ungeduldig werden und nach Burson rufen, ihrem Sicherheitschef. Der würde seine Schakale mitbringen und Jagd auf sie machen, jeden Raum auf den Kopf stellen, Pheromonzusätze auf den Boden sprühen und den Neonspuren bis zu ihrem Versteck folgen. Sie musste fort sein, ehe Burson kam. Sollten die Angestellten gezwungen sein, kostbare Zeit mit dem Wegputzen von Pheromonen zu vergeuden, würde Madame Belari sie bestrafen.
Das Flötenmädchen verlagerte erneut das Gewicht. Allmählich taten ihr die Beine weh. Sie fragte sich, ob sie wohl unter der Belastung brechen würden. Manchmal war sie selbst überrascht, wie leicht sie sich etwas brach. Sie musste nur einmal sanft gegen einen Tisch stoßen, und schon ging sie wieder in Stücke, während Belari sich darüber ärgerte, wie unvorsichtig mit ihren Investitionen umgegangen wurde.
Das Flötenmädchen seufzte. Es war wirklich an der Zeit, ihr Geheimversteck zu verlassen, aber sie sehnte sich so sehr nach Ruhe, nach ein wenig Zeit nur für sich. Ihre Schwester Nia konnte das nie nachvollziehen. Stephen hingegen ... er hatte es verstanden. Als ihm das Flötenmädchen von ihrem Geheimversteck erzählt hatte, dachte sie, er würde ihr das nur deshalb nachsehen, weil er ein netter Kerl war.
Weitere Kostenlose Bücher