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Der Spieler (German Edition)

Der Spieler (German Edition)

Titel: Der Spieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Pacigalupi
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flüchtig sie auch gewesen sein mochte, dem Vergessen anheimfallen  – die Energieerschließung würde einfach über sie hinweggehen. Vom Standpunkt der Gewinnmaximierung aus betrachtet war das eigentlich kein Verlust, aber Lalji bekam eine Gänsehaut, wenn er daran dachte, dass hier ein Stück Vergangenheit ausradiert werden würde. Er verbrachte zu viel Zeit damit, sich an das Indien seiner Kindheit zu erinnern, um an einem solchen Umgang mit der Geschichte Gefallen zu finden. Vorsichtig stieg er die staubige Treppe hinunter und trat zu Creo hinaus ins Freie.
    »Irgendjemand da?«
    Lalji schüttelte den Kopf. Creo brummte etwas und schoss knapp an einer Cheshire vorbei. Er war gut, aber die fast unsichtbaren Tiere waren schwer zu treffen. Creo spannte seine Federpistole und schoss erneut. »Hier hat es wirklich eine Menge von diesen Viechern.«
    »Es gibt auch niemanden, der sie ausrotten würde.«
    »Ich sollte ihre Felle einsammeln und nach New Orleans mitnehmen.«
    »Nicht auf meinem Boot.«
    Immer mehr der Schemen rannten davon. Offenbar hatten sie begriffen, mit was für einem Gegner sie es zu tun hatten. Creo nahm einen flimmernden Lichtfleck weiter unten an der Straße ins Visier.
    Lalji sah ihm teilnahmslos zu. »Die triffst du nie.«
    »Wetten.« Creo zielte sorgfältig.
    Ein Schatten fiel auf sie. »Nicht schießen!«
    Creo fuhr erschrocken herum.
    Lalji hob beschwichtigend die Hände. »Warte! Das ist er!«
    Bei dem Neuankömmling handelte es sich um einen hageren alten Mann, der bis auf einen graubraunen Haarkranz kahl war. Graue Stoppeln bedeckten sein breites Kinn. Sein weiter Hanfkittel war schmutzig und zerschlissen, und seine Augen lagen tief in den Höhlen. Lalji musste an einen Sadhu denken, dem er vor langer Zeit begegnet war und der seine Blöße mit kaum mehr als Asche bedeckt hatte: das Haar verfilzt, den Blick in die Ferne gerichtet, als hätte er bereits Erleuchtung erlangt. Lalji schüttelte die Erinnerung ab. Dieser Mann war kein Heiliger, sondern ein gewöhnlicher Mensch und ein Genfledderer dazu.
    Creo richtete seine Federpistole wieder auf die Cheshire. »Im Süden bekomme ich für jedes erlegte Tier einen blauen Schein.«
    »Hier zahlt Ihnen niemand etwas dafür«, sagte der Alte.
    »Schon möglich, aber sie sind trotzdem eine Plage.«
    »Es ist nicht ihre Schuld, dass wir sie zu vollkommen gemacht haben.« Der Alte lächelte zögerlich, als würde er einen Gesichtsausdruck ausprobieren. »Bitte.« Er ging vor Creo in die Hocke. »Nicht schießen.«
    Lalji legte eine Hand auf Creos Springfederpistole. »Lass die Cheshire in Ruhe.«
    Creo musterte ihn mürrisch, doch er löste den Mechanismus der Waffe, der die Energie freigab. Es klang wie ein Seufzen.
    »Ich heiße Charles Bowman«, sagte der Kalorienmann und sah sie erwartungsvoll an, als müssten sie bei diesem Namen aufhorchen. »Ich bin bereit. Wir können gehen.«
     
    Gita war tot, daran hegte Lalji keinen Zweifel mehr.
    Manchmal hatte er so getan, als wäre sie noch am Leben. Als hätte sie ihr Glück gefunden, obwohl er fort war.
    Aber sie war tot, davon war er inzwischen überzeugt. Das gehörte zu den vielen Dingen, derer er sich insgeheim schämte – zu den Dingen, die sich angesammelt hatten wie Hundescheiße an seinen Schuhsohlen, und die ihn in seinen eigenen Augen zu einem schlechteren Menschen machten. Dazu gehörte auch, dass er einmal einem Jungen einen Stein an den Kopf geworfen hatte, grundlos, einfach nur, weil er wissen wollte, ob er es konnte; dass er Samen ausgegraben und gegessen hatte, einen nach dem anderen, zu hungrig, um mit jemandem zu teilen. Und Gita natürlich. Immer wieder Gita. Dass er sie verlassen hatte, um dort zu leben, wo die Kalorien waren. Dass sie auf dem Kai gestanden und gewunken hatte, während er Segel setzte, obwohl sie doch für die Passage bezahlt hatte.
    Er wusste noch gut, wie er ihr, als sie beide noch Kinder gewesen waren, hinterhergerannt war, wie ihr Salwar Kamiz geraschelt hatte, während sie vor ihm davonlief. Ach, ihr schwarzes Haar, ihre schwarzen Augen und ihre weißen, weißen Zähne! War sie wirklich so schön gewesen? Hatte ihr geölter schwarzer Zopf wirklich so geschimmert, wenn sie bei ihm im Dunkeln saß und ihm Geschichten über Arjuna und Krishna, über Rama und Hanuman erzählte? Er hatte so viel vergessen! Manchmal fragte er sich, ob es auch wirklich ihr Gesicht war, das er vor seinem geistigen Auge sah, und nicht das irgendeines Bollywood-Sternchens, das er

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