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Der Spinnenmann

Der Spinnenmann

Titel: Der Spinnenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terje Emberland
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beiden Händen den Rand einer Felsspalte greifen. Mit pochendem Herzen blieb ich so hängen, bis meine Füße schließlich Halt fanden.
    Mein Selbstbewusstsein war vollkommen dahin. Ich wagte weder hinauf- noch hinunterzuklettern. Ich war überzeugt, dass mein Sturz in die Tiefe nur verhindert werden könnte, indem ich in völliger Ruhe verharrte.
    Schließlich begann ich langsam und umständlich mit dem Abstieg. Es dauerte eine Ewigkeit, und als ich wieder am Fuß der Felswand angelangt war, spielte ich mit dem Gedanken, die Nagelschuhe dorthin zu werfen, wo der Pfeffer wuchs. Niemals würde ein Gipfelstürmer aus mir werden, dachte ich.
    Nach unzähligen Klettertouren führte ich mich immer noch wie ein Amateur auf.
     
    Auf dem Rückweg verlief ich mich in den Felsspalten westlich des Hauktjerns. Nachdem ich mich lange durch sumpfige Tümpel und bis zu den Schenkeln reichendes Farnkraut gekämpft hatte, wurde mein Nervenkostüm immer dünner. Die Sonne stand tief, die Landschaft war wie verwandelt. Hier unten in der windstillen Luft summte es nur so vor lauter Insekten, und der Farnwald um mich herum schien mit jedem Schritt zu wachsen. Es war, wie durch eine der vorzeitlichen, auf Schautafeln gedruckten Landschaften zu wandern, die ich aus der Biologiestunde kannte: ein Sumpf aus der Zeit des Devon, wo riesige Libellen unbewegt über Gefäßpflanzen hingen und schuppige Panzerkröten den Kopf aus dem feuchten Unterholz streckten.
    Meine Füße verfingen sich in Wurzeln und Pflanzenresten, ich ritzte mich an scharfen Dornen und fluchte laut und lange. Meine Kleider waren von Schweiß und Schlammwasser durchnässt, und mein Körper war von den Strapazen geschwächt. Plötzlich wurde mir klar, dass ich hier unten umkommen könnte.
    Kaum war dieser Gedanke da, entdeckte ich einen schmalen Waldweg.
    Ich hatte das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein. Ich folgte dem Weg vorbei an hohen Felsterrassen und Kiefern, bis er auf eine Lichtung führte. Natürlich. Hier in der Nähe hatte Fuhrmann Karsten Johansen im Winter das Geisterflugzeug gesehen.
    Ich eilte weiter über steile Hügel und tiefe Abgründe voll tückischer Sumpflöcher und fand mich auf dem Bergrücken wieder, auf dem ich ein halbes Jahr zuvor mit Johansen gestanden hatte. Ich blickte hinunter auf den spiegelblanken Waldsee. Dann hob ich den Kopf und entdeckte Lorentsens Landhaus am entgegengesetzten Ufer des Sees.
    Wenn Johansens Geschichte stimmte, hätte das mysteriöse Flugzeug vielleicht auf dem Solvann landen können.
    Wahrscheinlich lag es an meinen strapazierten Nerven, ich weiß es nicht, aber Tatsache ist, dass mich diese Entdeckung in Panik versetzte. Ich bildete mir ein, dass Kiss in Gefahr schwebte, und tadelte mich, weil ich sie hier draußen in der Einöde zurückgelassen hatte. Die Pflanzenwildnis am Ufer war fast unmöglich zu überwinden, doch ich mobilisierte die letzten Kräfte und erreichte nach einer halben Stunde das Landhaus. Als ich zur Terrasse kam, sah ich, dass die Tür offen stand. Das musste natürlich nichts bedeuten, doch in meiner überhitzten Fantasie war dies der Beweis, dass meine schlimmsten Befürchtungen eingetreten waren.
    Kiss war nicht im Kaminzimmer, auch nicht in einem der Schlafzimmer. Ich öffnete die Tür eines kleinen Zimmers im ersten Stock. Hinten im Raum lag das Badekabinett, das Herr Lorentsen hatte einbauen lassen, mit Abfluss im Zementboden und einer Dusche, die einen dünnen Strahl eiskalten, aus einer Tonne hierher geleiteten Regenwassers ausstieß.
    Erleichtert atmete ich auf. Kiss stand hinter dem Duschvorhang und war damit beschäftigt, sich von Kopf bis Fuß abzuschrubben.
    Vorsichtig schloss ich die Tür und schlich mich an den Vorhang heran. Kiss stand mit dem Rücken zu mir und seifte sich das Haar ein. Ihre Ohren waren anscheinend so voller Schaum, dass sie es nicht einmal gehört hätte, wenn die Tür eingetreten worden wäre.
    Ich riss den Vorhang zur Seite. Ich hatte geplant, >Hände hoch!< zu rufen, um zu sehen, wie schreckhaft sie war.
    Doch stattdessen war sie es, die mir den Schreck meines Lebens einjagte.
    Sie sah aus wie ein Folteropfer, Rücken und Hinterteil waren von unzähligen Narben übersät. Zwar waren sie nicht neu, legten jedoch deutlich Zeugnis von den Schrecken ab, die Kiss durchlitten hatte. Nie zuvor hatte ich etwas gesehen, das mich mehr erschütterte: Das arme Mädchen war auf altmodische Art gegeißelt worden.
    Kiss fuhr herum und sah mich zu Tode erschrocken an.

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