Der Spinnenmann
Ich brachte kein Wort heraus. Langsam begann ich zu verstehen.
Wenn ich ihr ganzes Ich sähe, hatte sie gesagt, würde ich verstehen, dass sie überhaupt nicht schön sei.
Sie hatte auf die Narben angespielt.
Das Blut gefror mir in den Adern, als ich mich an eine andere Unheil verkündende Äußerung erinnerte: >Ich bin immer noch so, wie Lennart mich haben wollte<.
Das war unmöglich.
Der Mann, der die Peitsche auf ihr hatte tanzen lassen, konnte doch wohl nicht…?
Kiss hatte die Fassung wiedererlangt. Nachdem sie die Seife abgespült hatte, bat sie mich, ihr den Bademantel zu reichen. Dann wollte sie ein Handtuch. Erst, als sie es zu einem Turban um ihr feuchtes Haar knotete, beantwortete sie die Frage, die ich nie gestellt hatte.
»Du hast richtig geraten«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Lennart hatte eine Vorliebe für Sadismus. Nur eine seiner vielen abscheulichen Angewohnheiten.«
Ein Salon in der Giesebrechtstraße
Wir saßen unten im Kaminzimmer und redeten die ganze Nacht. Kiss enthüllte höchst schockierende Geheimnisse über Lennart. Was sie erzählte, passte so schlecht zu dem mir bekannten humorvollen und freundlichen Jungen, dass ich unwillkürlich ausrief: »Das kann Lennart nicht getan haben, Kiss. Es kommt mir vor, als ob du von jemand völlig anderem sprichst!«
Sie lächelte milde, so als schmerze es sie, meine glänzende Vorstellung von Lennart zu beschmutzen.
»Vermutlich könnten alle Frauen, die Lennarts Charme erlagen, ganz ähnliche Geschichten erzählen. Er war vollständig in der Gewalt seiner Triebe und betrachtete mich bloß als ein Mittel, um Befriedigung zu erlangen. Außerdem waren seine Liebesqualitäten völlig verpfuscht. Das einzige, was ihn erregte, war, mich zu erniedrigen.«
»Auf welche Weise?«
»Er tat alles, um mein Selbstbewusstsein zu zerstören. Es konnte zum Beispiel passieren, dass wir ein Abendessen mit gutem Wein geplant hatten, und dann klingelt das Telefon, kurz bevor wir uns an den Tisch setzen wollen. Ich höre, wie Lennart den Hörer abnimmt und begreife, dass er mit einer seiner Freundinnen spricht. Als Nächstes bläst er das ganze Abendessen ab, weil er unbedingt dieses Frauenzimmer treffen muss.«
»Aber warst du denn sicher, dass es sich um eine andere Frau handelte?«
»Ja, natürlich. Und anscheinend war das Ganze geplant. Als Lennart spät in der Nacht zurückkam, hatte ich das volle Gefühlsregister von Wutanfällen bis hin zu Selbstmitleid durchlaufen und befand mich in einem Zustand, in dem ich vor absolut allem Angst hatte. Angst vor der Macht, die Lennart über mich hatte. Angst davor, dass er mich psychisch zugrunde richtete…«
Kiss sah mir entschieden in die Augen, so als erwarte sie, dass ich es nicht verstehen würde: »Doch am meisten hatte ich Angst davor, dass Lennart mich verlassen könnte.«
Unschlüssig räusperte ich mich. »Also hast du ihn deshalb …«
»Die Peitsche benutzen lassen? Ja, eigentlich war das gar nicht so schlimm. Die gefühlsmäßige Misshandlung war weitaus schlimmer.«
Ich starrte sie verständnislos an. »Ich habe die Narben gesehen, Kiss. Es muss doch schrecklich gewesen sein, auf diese Weise bis aufs Blut geschlagen zu werden.«
Sie zuckte mit den Achseln.
»Das sagst du, weil du ein Mann bist. Männer können körperliche Schmerzen nicht ertragen. Aber die Narben verschwinden mit der Zeit. Unsicherheit und Angst hingegen nicht.«
Ich grübelte lange vor mich hin, ohne den Sinn ihrer Worte zu verstehen. Kiss musste es mir angesehen haben, denn plötzlich sagte sie: »Das Komische ist, dass ich ihn geliebt habe, Erik. Tief und innig. In gewisser Weise tue ich das noch immer.«
Diese Bemerkung hätte sie sich sparen können. Sie erweckte in mir wieder das Gefühl, dass ich sie mit Lennart teilte.
Ich wechselte das Thema. »Wie war eigentlich Lennarts Verbindung zu Manteuffel?«
Sie blickte zu Boden. »Wie ich schon sagte, ich weiß nicht viel darüber.«
»Du hast doch erzählt, dass Lennart Manteuffel in Berlin kennengelernt hat. Wie ist es dazu gekommen?«
Kiss holte tief Luft. »Lennart besuchte öfter einen kleinen Salon in der Giesebrechtstraße, nicht weit vom Kurfürstendamm. Es handelte sich um so ein Etablissement, wo reiche und mächtige Männer in diskreter Umgebung mit Prostituierten verkehren konnten. Der Salon war ein paar Auserwählten vorbehalten, man brauchte ein Codewort, um eingelassen zu werden. Lennart mochte diesen Ort, weil er dort ganz ungehindert
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