Der Spion, der aus der Kälte kam
Meinung darüber, was im Anschluß daran geschehen war. Einige sagten, der Krämer habe bei dem Versuch, das Paket an sich zu bringen, Leamas gestoßen. Andere sagten, er habe es nicht getan. Auf jeden Fall stand fest, dass Leamas nach dem Krämer geschlagen hatte, und zwar nach Ansicht der meisten zweimal, ohne dass er seine rechte Hand freigemacht hätte, die noch immer den Tragbeutel hielt. Er schien den Schlag nicht mit der Faust zu führen, sondern mit der Kante der linken Hand und - als Teil derselben unglaublich schnellen Bewegung - mit dem linken Ellbogen. Der Krämer ging kerzengerade zu Boden und rührte sich nicht mehr. Vor Gericht wurde später behauptet, und von der Verteidigung nicht bestritten, dass der Krämer zwei Verletzungen davongetragen hatte: vom ersten Schlag einen gebrochenen Backenknochen und vom zweiten ein ausgerenktes Kinn. Die Berichterstattung war angemessen, aber nicht übertrieben ausführlich.
6KONTAKT
Nachts lag er auf seiner Pritsche und hörte auf die Laute der Häftlinge: das heimliche Schluchzen eines jungen Burschen und den Gesang eines alten Zuchthäuslers, der auf seinem Blechnapf den Takt dazu schlug. Ein Wärter schrie nach jedem Vers: »Halt's Maul, George, du alter Schurke«, aber niemand nahm Notiz davon. Dann war ein Ire da, der Lieder über den Freiheitskampf sang, obgleich die anderen sagten, er sei wegen Vergewaltigung eingesperrt.
Leamas versuchte, am Tage möglichst viel Bewegung zu machen, um müde zu werden und nachts schlafen zu können, aber es half nichts. Nachts wußte man, dass man im Gefängnis war: Nachts gab es nichts, was einem geholfen hätte, den ekelhaften Zustand des Gefangenseins zu vergessen, keinen Trick der Einbildungskraft, keine Selbsttäuschung. Man konnte sich weder der Gefängnisluft entziehen noch dem Geruch der eigenen Sträflingskleidung, noch dem Gestank der Kübel, noch den Geräuschen der anderen Männer. Besonders in der Nacht schien die Würdelosigkeit der Haft kaum noch erträglich, und besonders dann sehnte sich Leamas nach einem Spaziergang im freundlichen Sonnenschein eines Londoner Parks. Besonders in der Nacht empfand er gegen den grotesken Stahlkäfig, in dem er eingeschlossen war, einen so großen Haß, dass er nur schwer dem Wunsch widerstehen konnte, mit den bloßen Fäusten gegen die Käfigstangen loszugehen, die Schädel seiner Wärter einzuschlagen und in den freien Raum Londons auszubrechen. Manchmal dachte er an Liz. Er hatte sich angewöhnt, die Gedanken wie das Objektiv einer Kamera auf sie zu richten, um für einen Augenblick die Erinnerung an die Berührung ihres weichen und doch straffen Körpers zu genießen und sie dann wieder aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Leamas war ein Mann, der gewohnt war, von Träumen zu leben.
Er verachtete seine Zellengenossen, und sie haßten ihn. Sie haßten ihn, weil er das war, was jeder heimlich zu sein wünschte: ein Geheimnis. Er bewahrte einen deutlich spürbaren Teil seiner Persönlichkeit vor dem Zugriff der Gefängnisgemeinschaft, indem er sich auch in sentimentalen Augenblicken nicht dazu hinreißen ließ, über sein Mädchen, seine Familie oder seine Kinder zu sprechen. Die anderen wußten nichts von Leamas. Sie warteten darauf, dass er sich ihnen anvertraute, aber er kam nicht zu ihnen.
Es gibt im großen und ganzen nur zwei Arten von Neulingen im Gefängnis, die einen sind von Scham, Furcht oder Schock in einen Zustand des starren Schrecks versetzt, in dem sie darauf warten, in die Lehre des Gefängnislebens eingeführt zu werden, während die anderen mit ihrer elenden Neuheit hausieren gehen, um sich bei der Gemeinschaft einzuschmeicheln. Leamas tat keines von beiden. Er schien zufrieden damit zu sein, sie alle zu verachten, und sie haßten ihn, weil sie von ihm ebensowenig wie von der Welt draußen gebraucht wurden. Nach ungefähr zehn Tagen waren sie es überdrüssig. Er hatte den Großen nicht gehuldigt und den Kleinen keinen Trost gespendet, so dass man ihn in der Essensschlange rempelte. Rempeln ist ein Gefängnisbrauch, der auf die im 18. Jahrhundert üblich gewesene Technik des Quetschens zurückgeht. Er hat den Vorteil, ein scheinbarer Zufall zu sein, bei dem der Inhalt des Eßgeschirrs auf die Uniform des Gefangenen geschüttet wird. Während Leamas von der einen Seite heftig gestoßen wurde, senkte sich auf der anderen eine gefällige Hand auf seinen Unterarm, schon war die Sache bewerkstelligt. Leamas sagte nichts, sondern prägte sich nur aufmerksam
Weitere Kostenlose Bücher