Der Spion der mich liebte
Küsse« sandten. Es waren Tränen der Erinnerung an eine verlorene Kindheit. Ehe ich sie wegwischte, beschloß ich, mich eine Weile ganz ungehemmt meinen Erinnerungen hinzugeben. Mein Name ist Vivienne Michel, und als ich im Dreamy Pines Motel saß und zurückdachte, war ich dreiundzwanzig Jahre alt. Ich bin einsfünfundsechzig groß und war immer der Meinung, ich hätte eine gute Figur, bis die englischen Mädchen im Astor House mich darauf aufmerksam machten, daß mein Hinterteil zu ausgeprägt sei und daß ich einen engeren Büstenhalter tragen müsse. Meine Augen sind, wie schon erwähnt, blau, und mein Haar ist dunkelbraun. Meine hohen Backenknochen gefallen mir eigentlich, obwohl dieselben englischen Mädchen behaupteten, ich sähe deshalb »ausländisch« aus. Allerdings ist meine Nase zu klein, und mein Mund ist zu groß. Die Folge ist, daß er auf Männer sinnlich wirkt, auch wenn mir gar nicht so zumute ist. Ich bin lebhaft und leichtblütig veranlagt und schmeichle mir gern damit, daß meinem Wesen ein romantischer Zug ins Melancholische anhaftet. Doch ich bin so eigensinnig und selbständig, daß die Nonnen im Konvent sich ernsthafte Sorgen um mich machten. Ich bin Kanadierin und wurde ganz in der Nähe von Quebec geboren, in einem kleinen Ort namens Sainte Familie an der Nordküste der Ile d'Orleans, einer langgezogenen Insel, die wie ein riesiges Schiffswrack inmitten des Sankt-Lorenz-Stroms liegt. An und in diesem großen Fluß wuchs ich auf. Kein Wunder, daß ich in meiner Freizeit am liebsten schwimme oder angle oder zelte und daß ich eine Vorliebe für das ungebundene Leben im Freien habe. An meine Eltern kann ich mich nur schwach erinnern - ich weiß, daß ich meinen Vater abgöttisch liebte und mit meiner Mutter in ständigem Kampf lag -, denn sie kamen beide bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Ich war damals acht. Das Gericht ernannte meine verwitwete Tante, Florence Toussaint, zu meinem Vormund. Sie zog in unser kleines Haus und kümmerte sich um mich. Wir kamen ganz gut miteinander aus, und heute hänge ich mit fast kindlicher Liebe an ihr; doch sie war Protestantin, während ich im katholischen Glauben erzogen worden war. Ich wurde ein Opfer des religiösen Tauziehens, das stets der Fluch der von Priestern beherrschten Stadt Quebec gewesen ist, in der beide Glaubensrichtungen von einer beinahe gleichen Zahl von Anhängern vertreten sind. Die Katholiken siegten in der Schlacht um mein Seelenheil, und ich wurde bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr im Konvent der Ursulinerinnen erzogen.
Die Nonnen waren streng, und es wurde größter Wert auf Frömmigkeit gelegt. Die Folge war, daß ich in Religionsgeschichte und dunklen Glaubenslehren sehr bewandert war.
Doch nur zu gern hätte ich dieses Wissen hingegeben, um andere Dinge zu lernen, die mir nicht nur eine Eignung zur Nonne oder Krankenschwester mitgaben. Schließlich legte sich diese Atmosphäre so beengend auf mein Gemüt, daß ich darum bat, den Konvent verlassen zu dürfen. Meine Tante rettete mich vor den »Papisten«, und es wurde beschlossen, daß ich mit sechzehn nach England gehen sollte, um den »letzten Schliff« zu erhalten. Diese Entscheidung löste unter Verwandten und Bekannten Mißbilligung und Empörung aus. Die Ursulinerinnen bilden nicht nur den Kern der katholischen Tradition in Quebec, sondern meine Familie hatte dem innersten Bollwerk der kanadischen Gemeinde französischer Abstammung angehört. Die Tatsache, daß eine Michel mit den teuren Gepflogenheiten dieser beiden mächtigen Gruppen auf einmal brechen wollte, gab zu Verwirrung und Skandal Anlaß.
Die echten Söhne und Töchter Quebecs bilden eine Gesellschaft, man könnte fast sagen, eine Geheimgesellschaft, die wohl ebenso mächtig ist wie die kalvinistische Clique in Genf, und ihre Angehörigen nennen sich stolz »Canadiennes«. Tiefer, viel tiefer auf der Leiter des Ansehens folgten die »Cana-diens«, die protestantischen Kanadier. Danach kommen »Les Anglais«. Diese Bezeichnung umfaßt alle Einwanderer aus Großbritannien. Und schließlich »Les Americains«, ein Ausdruck der Verachtung. Ich bin etwas ausführlicher auf diese Umstände eingegangen, um klarzumachen, daß die Abwendung einer Michel von dieser Stätte des wahren Glaubens als unverzeihliche Verfehlung betrachtet wurde, und weder die Wächter über mein Seelenheil noch die Einwohner meiner Heimatstadt machten einen Hehl daraus, daß sie mich als Abtrünnige betrachteten.
Meine Tante beruhigte
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