Der Spion der mich liebte
den unbequemen Metallstühlen, der große Eiswasserbehälter und die blitzende Kaffeemaschine. Alles stand an seinem Platz. Nur in einem Fenster fehlte eine Scheibe, und darunter breitete sich eine Wasserlache aus, eine Erinnerung an den Alptraum, den ich hinter mir hatte. Aber es war alles meine eigene Schuld gewesen. Ich hatte den Kopf verloren. Natürlich, es hatte ein Gewitter gegeben. Donner und Blitz hatten sich abgewechselt. Ich war verschreckt und verängstigt gewesen wie ein Kind. In meiner panischen Angst hatte ich den elektrischen Schalter betätigen wollen - hatte nicht einmal eine Pause zwischen den Blitzschlägen abgewartet, sondern genau den Augenblick gewählt, als erneut ein Blitz herabschoß. Ich hatte einen Schlag bekommen und das
Bewußtsein verloren. Zur Strafe hatte ich eine Beule am Kopf davongetragen. Das geschah mir nur zu recht. Aber Moment mal! Vielleicht war mein Haar doch weiß geworden? Ich schritt eilig durch den Raum, nahm meine Handtasche vom Empfangstisch und trat hinter die Theke des Selbstbedienungsrestaurants. Dort ging ich in die Knie und blickte in den langen Spiegel unter den Regalbrettern. Zuerst sah ich in meine eigenen Augen. Sie starrten mich an, blau und klar, jedoch weit aufgerissen in einem Ausdruck furchtsamen Argwohns. Die Wimpern waren noch da und auch die Brauen. Darüber folgte die hohe, fragend gerunzelte Stirn und dann, ja, das dichte tiefbraune Haar, das in zwei großen Wellen über die Ohren fiel. Na also! Ich zog meinen Kamm heraus und fuhr mir heftig durch das Haar.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Es war kurz vor sieben. Ich schaltete das Radio ein, und während ich dem Sprecher zuhörte, der seinen Hörern die Auswirkungen des Gewitters in den dunkelsten Farben schilderte - Telefonverbindungen waren unterbrochen, in der Nähe von Glen Falls stieg der Hudson gefährlich an, ein gefällter Baum blockierte die Staatsstraße 9 -, klebte ich mit Scotchtape ein Stück Pappe über die zerbrochene Fensterscheibe. Dann holte ich ein Tuch und einen Eimer und wischte das Regenwasser unter dem Fenster auf. Als ich fertig war, rannte ich den kurzen überdachten Weg zum Gästegebäude hinüber und betrat mein Zimmer, Nummer 9, das auf der rechten Seite lag. Ich zog meine Kleider aus und duschte kalt. Meine weiße Hemdbluse war beim Fall schmutzig geworden. Ich wusch sie aus und hing sie zum Trocknen auf. Schon hatte ich vergessen, welche schreckliche Strafe mir durch das Gewitter zuteil geworden war. Die Vorfreude auf den einsamen Abend, der vor mir lag, auf die Fortsetzung meiner Reise am nächsten Tag hatte wieder von mir Besitz ergriffen. Aus einem Impuls heraus kramte ich aus den wenigen Kleidungsstücken, die im Schrank hingen, meinen besten Anzug heraus - die schwarze Samthose mit dem goldenen Reißverschluß hinten in der Mitte, die herausfordernd eng saß, und dazu den Pulli aus Goldfäden mit dem lockeren, weich fallenden Rollkragen. Ohne mir erst die Mühe zu machen, einen Büstenhalter anzuziehen, streifte ich die beiden Kleidungsstücke über und bewunderte mich im Spiegel. Ich schob die Ärmel über die Ellbogen hinauf und schlüpfte in die goldenen Ferragamo-Sandalen. Dann sauste ich zurück ins Hauptgebäude.
In der Whiskyflasche, die mich schon seit zwei Wochen begleitete, war gerade noch ein guter Schluck übrig. Ich füllte ein Glas mit Eiswürfeln und goß den Whisky darüber, indem ich die Flasche schüttelte, um auch den letzten Tropfen herauszubekommen. Dann zog ich mir einen bequemen Sessel aus der Empfangshalle neben das Radio, stellte den Apparat etwas lauter, steckte mir eine Zigarette an und nahm einen kräftigen Zug aus meinem Glas, bevor ich mich in den Sessel kuschelte.
Die Station WOKO versprach ihren Hörern vierzig Minuten Musik, und plötzlich sangen die Ink Spots Someone's Rocking my Dream Boat, und ich war wieder in einem Boot auf der Themse wie vor fünf Sommern, wir trieben an Kings Eyot vorbei, und in der Ferne tauchte Schloß Windsor auf. Derek ruderte, während ich den Plattenspieler bediente. Wir hatten nur zehn Platten, doch jedesmal, wenn ich die Langspielplatte der Ink Spots auflegte und nach einer Weile Dream Boat erklang, bat mich Derek unweigerlich: »Spiel es noch einmal, Viv.«
Jetzt füllten sich meine Augen mit Tränen - nicht wegen Derek, sondern aus Schmerz bei der Erinnerung an den Jungen und das Mädchen, den Sonnenschein, die erste Liebe mit ihren Liedern und Schnappschüssen, den Briefen, die »tausend
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