Der Spion der Zeit
Verschwörungen neigend, erinnert der Sie nicht an Cassius?«
»Stimmt. Und wo ich jetzt so darüber nachdenke: Moliner und Prades würden sich in Macbeth nicht schlecht machen. Brutale Krieger, deren Weg an die Macht von Leichen gepflastert ist.«
»Noch besser passen sie in Titus Andronicus, ein frühes, noch ungelenkes und ziemlich blutrünstiges Werk.«
»Interessanter Gedanke. Angenommen, wir lebten in einem Universum, das von Shakespeare erschaffen wurde, oder von einem Schöpfer von shakespearescher Sensibilität …«
»Es wäre nicht das erste Mal, dass die Wirklichkeit von der Literatur gesteuert wird.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Jahrhundertelang hat die Menschheit versucht, sich nach Jahwe, dem Gott des Alten Testaments, zu richten – also dem Protagonisten eines Buchs. Und dann wollte sie Jesus nachfolgen, dem Gott des Neuen Testaments. Wieder ein Buch!«
»Wenn ich die Wahl hätte, würde ich mir eine andere Welt als die von Macbeth aussuchen. Ich würde etwas Leichteres, Netteres vorziehen. Mark Twain zum Beispiel. Das wäre mal eine schöne Welt. Ich mag die Schaufelraddampfer auf dem Mississippi.«
»Ich muss ins Haus zurück.«
»Wir könnten zusammen zu Abend essen und unser Gespräch über die literarischen Kosmen bei einem guten Tropfen fortsetzen.«
»Ich bin alle Berichte durchgegangen, und nirgendwo habe ich eine Analyse des Wassers finden können«, sagte Van Upp.
»Welches Wasser?«
»Das, mit dem Abelláns Arbeitszimmer geflutet wurde.«
»So etwas erfolgt nur auf ausdrückliche Anordnung. Was versprechen Sie sich davon?«
Van Upp zuckte die Achseln.
»Man weiß nie.«
»Also dann zum Abendessen?«
»Heute Abend geht es nicht. Vielleicht, wenn alles vorbei ist.«
»Dieser Job kann sehr einsam sein«, sagte Carranza.
»Das Leben auch«, erwiderte Van Upp und kehrte zurück ins Haus.
XV
Die Ermittler setzten ihre Untersuchungen fort. Der Polizeibeamte H, ein Rotschopf, der aussah, als trüge er einen Brustpanzer unter dem Hemd, betrachtete ein Foto: Abelláns Ernennung zum Oberkommandierenden der Angriffstruppen, wenige Wochen vor Kriegsbeginn. Der Henker Moliner wirkte heiter.
H schüttelte den Kopf.
»Gott hat ihm seine gerechte Strafe zuteil werden lassen«, murmelte er.
»Was haben Sie da gesagt?«, fragte Van Upp.
»Ja, Chef?«
»Ich habe gefragt, was Sie da eben gesagt haben.«
»Mein jüngerer Bruder, Chef. Er war im Krieg und …«
»Sie sollen sich nicht rechtfertigen, wiederholen Sie einfach nur, was Sie gesagt haben.«
»Dass Gott ihn bestraft hat.«
»Abellán?«
»Ja, das meinte ich.«
»Und Ferrer?«
»Wahrscheinlich auch, Chef.«
»Gott ist also vom Himmel herabgestiegen, um sie zu bestrafen?«
»So sagt man doch, Chef.«
Van Upp blieb die nächste Frage im Halse stecken. Alle blickten ihn erwartungsvoll an: Nora, Dumont, sogar Carranza, der im Garten stand.
»Schauen Sie einmal hier«, sagte Nadal und zeigte ihm ein aufgeschlagenes Buch.
Mit den Fingern strich Van Upp über die ausgefranste Stelle in der Mitte. Es fehlten zwanzig Seiten. Jemand hatte sie herausgerissen.
»Der Abfluss wurde mit den Seiten eines Buches aus diesem Raum verstopft. Das spricht für die Selbstmordhypothese. Andererseits könnte es auch auf einen ungeplanten Mord im Affekt hindeuten«, sagte Van Upp und starrte auf den Einband. Es handelte sich um eine Bibel. In Leder gefasst, durch das Wasser aufgequollen.
»Erstes Buch Mose, Kapitel vier bis elf«, sagte Van Upp und dann an Nadal gewandt: »Kennen Sie sich im Alten Testament aus?«
Die Antwort des Polizisten beschränkte sich auf ein Brummen.
»Die Sintflut. Das ist das fehlende Puzzleteil«, sagte Van Upp. »Wer auch für Abelláns Tod verantwortlich sein mag: Er hat dafür gesorgt, dass wir die Tat richtig interpretieren.«
XVI
Gerichtsmediziner haben etwas von Künstlern an sich.
Ihre Gebärden im Umgang mit dem Skalpell ähneln denjenigen eines Malers mit dem Pinsel auf der Leinwand; es haftet ihnen etwas Manieriertes an. Wie Schauspieler legen sie großen Wert auf die Technik, die es ihnen erlaubt, sich mit den großen Fragen des Lebens auseinanderzusetzen, ohne die Dinge wirklich an sich herankommen zu lassen. Der Tod ist für sie nur eine Zahl auf Papier. Gern treiben die Dramaturgen die Zahl der Opfer in die Höhe, im Glauben, das verleihe ihren Tragödien größeren Tiefgang. Doch trotz ihrer scheinbaren Geringschätzung des Todes genießen Theaterleute wie Gerichtsmediziner die Wirkung, die
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