Der Spion der Zeit
von einem vor Publikum ausgestellten Leichnam ausgeht.
Den Gestus, mit dem Carranza Abelláns Leichnam untersucht hatte, konnte man durchaus als dramatisch bezeichnen. Doch Van Upp war kein unerfahrener Zuschauer. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf drei aussagekräftige Details. Das erste war die Narbe, die den Brustkorb teilte. Sie begann auf Höhe des Brustbeins, machte einen Schlenker zu den Rippen und verlief dann geradlinig weiter bis zum Schambein; die Schnittführung kündete von der Nervosität, den Leichnam eines berühmten Mannes vor sich zu haben. Der Druck, unter dem gearbeitet worden war, trat auch an einem zweiten Detail zutage: winzige Kügelchen zwischen den Wimpern des rechten Auges – Überreste des Klebstoffs, der die Lider verschlossen hatte.
Diese beiden Details waren von eher nebensächlicher Bedeutung. Nicht so das dritte.
Abellán war weiß und aufgedunsen wie alle Wasserleichen. Seine durchscheinende Haut wies an den Schenkeln kreisförmige blaue Verfärbungen auf. Die Gesichtszüge waren entstellt, verquollen. Bei seinem Anblick dachte man unwillkürlich an einen Fisch oder ein Amphibium; die Natur nimmt es da manchmal sehr genau.
»Gibt es irgendwelche Zweifel bezüglich der Todesursache?«, fragte Van Upp.
»Alle Anzeichen haben auf Tod durch Ertrinken hingedeutet, und es ist ein Tod durch Ertrinken«, sagte Carranza und deckte Abellán wieder mit dem weißen Leintuch zu.
»Und Ferrer?«
»Sein Leichnam ist inzwischen eingetroffen. Es hat eine kleine Verzögerung gegeben, weil sich der Friedhofsdirektor wegen der Exhumierung, nun, wie soll ich sagen, etwas renitent gezeigt hat. Kaum zu glauben, aber es gibt immer noch Leute, die auf Seiten der Prätorianer stehen.«
»Vielleicht hatte er bloß das Wohl seines Kunden im Auge. Wirtschaftliche Interessen sind mächtiger als jedes politische Kalkül.«
Durch eine Schwingtür betrat Nora den Vorraum mit einem Van Upp unbekannten Mann. Er war kräftig, hatte schwarzes Haar und ein Muttermal auf der linken Wange. Der teure Anzug passte nicht zu seiner Statur, er wirkte darin wie ein Totschläger.
»Das ist …«, hob Nora an.
»Benet. Sergeant Álvaro Benet. Ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Arbeit«, sagte er und reichte Van Upp die Hand.
»Das ist Sergeant Álvaro Benet, von der Abteilung Eins«, sagte Nora verärgert. »Er wollte Sie kennenlernen. Ich habe ihm gesagt, Sie seien beschäftigt, aber der Sergeant wollte unbedingt …«
»Schon gut. Ist in Ordnung«, sagte Van Upp, ohne Benets Hand loszulassen. Er schüttelte sie ein paar Sekunden weiter. Benet war nicht leicht zu beeindrucken, doch am Ende wandte er den Blick ab.
»Ferrer wäre dann wohl so weit«, sagte Carranza und hob die Hand Richtung Autopsiesaal, um seinen Assistenten zu bedeuten, dass die Botschaft angekommen war.
»Bitte gehen Sie schon mal vor«, sagte Van Upp. Und zu Nora: »Es macht Ihnen doch nichts aus?«
»Nein, Chef«, sagte Nora und entschwand mit dem Gerichtsmediziner.
»Benet. Ein katalanischer Name, aber Sie kommen aus den Bergen. Man hört es an Ihrem Akzent«, sagte Van Upp und nahm eine Zigarette aus der Schachtel.
»Ich komme aus Sierra Alta«, erwiderte der Sergeant.
Van Upp nahm einen tiefen Zug. Es war schwarzer Tabak aus der Türkei, ein strenges Aroma. Benets Blick wanderte unweigerlich zu dem Schild »Rauchen verboten«.
»Ich vermute, Sie haben Ihre Laufbahn nicht hier in der Stadt begonnen«, sagte Van Upp und drehte die Bahre mit Abelláns Leiche.
»Nein. Im Heer. Achtes Regiment.«
Van Upp schüttelte kaum merklich den Kopf und stieß den beißenden Rauch aus. Er betrachtete den Körper unter dem Leichentuch und dachte dabei nicht an Abellán, sondern an den Polizeichef, dem seine Ernennung zum Leiter der Ermittlungen nicht passte. Der Polizeichef war mit Vorsicht zu genießen. Cäsar wusste, wovon er sprach, als er von Cassius sagte: »Er ist ein großer Prüfer und durchschaut das Tun der Menschen ganz; er liebt kein Spiel … hört nicht Musik; er lächelt selten, und auf solche Weise, als spotte er sein, verachte seinen Geist … Und solche Männer haben nimmer Ruh … Das ist es, was sie so gefährlich macht.«
Er ging zur Schwingtür und beobachtete durch das kleine runde Fenster, was nebenan geschah. Der Autopsiesaal war gebaut wie ein Amphitheater, mit Marmortischen in der Mitte. Zwei Assistenten bereiteten die Untersuchung vor. Nora stand im Hintergrund. Als Carranza ihn hinter dem Fenster bemerkte, winkte er
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