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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcelo Figueras
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Life’s but a walking shadow, a poor player / That struts and frets his hour upon the stage /And then is heard no more«, sagte Van Upp. »Macbeth, fünfter Akt, fünfte Szene.« Er zündete eine Zigarette an und fing an zu husten. Zu viel Feuchtigkeit lag in dem Raum, es schnürte ihm die Brust zu.
    Chiang sagte, lange Zeit habe man darüber gestritten, ob diese Täuschung ein konstitutives Element des Universums sei, etwas, das wesentlich zu seinem Aufbau gehöre und unveränderlich sei, oder ob man, im Gegenteil, sehr wohl etwas ändern könne. Einmütig sei man zu demselben Ergebnis gekommen: Ja, man könne etwas tun, um die Mauern des Labyrinths einzureißen. Im primitiven Denken wurde ein Schwindler, ein Engel namens Samael, dafür verantwortlich gemacht. Er habe uns eingeredet, er sei Gott, und um sich vor Strafe zu schützen, habe er sich – und damit auch uns – in diesem Universum eingeschlossen. Solange Samael lebte, sei Gott in der Nähe, aber wir könnten ihn nicht sehen.
    »Ich bin Wissenschaftler«, sagte Chiang, »und ich ziehe es vor, dieses Agens als Virus zu bezeichnen. Ein pathogener Organismus, der schwer zu entdecken und außerordentlich widerstandsfähig ist und sich nur fortpflanzt, wenn er bedroht ist.«
    Ein Telefonklingeln fror die Szene ein. Chiang schaute zu Van Upp, Van Upp schaute zu seinem Vater, der schwitzte und unter dem Licht immer dünner zu werden schien. Einige Augenblicke verharrten sie reglos. Am Ende nahm der Mann, der die Flaschen ordnete, den Hörer ab; es war nur ein kurzes Gespräch, und was er sagte, war nicht zu verstehen. Er legte auf, kam auf Chiang zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Chinese verlor völlig die Contenance, er war leichenblass und entsetzt; als habe er gerade die schlimmste Nachricht der Welt erhalten.
    Er machte eine wütende Armbewegung, und die beiden Spieler gingen zu einem Glasschrank. Jeder nahm ein Gewehr und prüfte, ob es geladen war.
    Van Upp stützte beide Hände auf den grünen Filz. Wie sollte er seinen Vater schützen? Seine Dienstwaffe lag zu Hause.
    »Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Chiang zu Urquiza.
    Der alte Mann nahm alle Kraft zusammen und baute sich vor dem Chinesen auf. »Doch«, sagte er ernst und deutete mit dem krummen Finger auf Chiangs Gesicht. »Sie haben es mir versprochen. Und ich werde Sie zwingen, Ihr Versprechen zu halten.«
    Urquiza schob die Hand in die Tasche seines Jacketts, zog eine versilberte Pistole heraus und legte sie zwischen die Karten und das Whiskyglas.
    XXVI
    Die bewaffneten Männer verließen den Raum. Urquiza setzte sich wieder, seine Finger strichen über den Pistolenkolben. Van Upp hatte das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Er wollte zu seinem Asthmaspray greifen, aber es war nicht in der Tasche, in der er es gewöhnlich aufbewahrte. Er dachte an die junge Chinesin, an ihren passenden kleinen Sturz, ihre grazilen Bewegungen. Ein Gedanke bekümmerte ihn: Wer, wenn nicht sein eigener Vater, hätte ihr sagen können, was sie in seinen Taschen fände?
    »Ich bin nicht dieser Virus«, sagte er keuchend zu Urquiza.
    Chiang fragte, woher er das wissen wolle.
    Van Upp erwiderte, er müsse ja wohl wissen, wer er sei.
    »Die Identität ist eine Konstruktion«, sagte Chiang. »Sie glauben zu wissen, wer Sie sind, haben aber immer schon den Verdacht gehabt, dass Sie jemand anders sind.«
    »Wenn ich ein anderer wäre, würde ich mich daran erinnern«, sagte Van Upp.
    »Es gibt Techniken, um zu vergessen«, sagte Chiang.
    »Ich habe nichts Böses getan«, sagte Van Upp.
    »Das ist eine philosophische Frage«, sagte Chiang, »ist das Böse etwas, das man tut oder das man ist?«
    Van Upp sah seinen Vater mit aufgerissenen Augen an. Er war dabei, zu ersticken.
    »Sie haben mich angeheuert, weil sie diesen Verdacht hatten«, sagte Urquiza, gequält. »Sie haben mir Beweise, Dokumente und Zeugen, präsentiert. Ich wusste, wer deine Mutter war. Sie wussten von deinem Vater, dem Überträger. Sie hätten dich getötet, aber ich habe sie um einen Gefallen gebeten.«
    »Du hast mich ausgeliefert.«
    »Ich will dich retten«, sagte Urquiza.
    Van Upp stand auf, wandte sich um und suchte nach dem Ausgang. Er konnte nicht mehr atmen, sich kaum bewegen. Sein Rücken war gekrümmt, alles Hünenhafte war von ihm abgefallen.
    Urquiza spannte die Waffe und zielte auf ihn.
    »Ich habe sie gebeten, dir eine Chance zu geben«, sagte er. »Ich habe gesagt, wenn du verstehen würdest, dass dein Opfer alles ändern

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