Sturz in den Tod (German Edition)
Prolog
Es hat lange funktioniert, dachte sie,
ich habe erstaunlich lange funktioniert.
Sie sah auf den Infusionsständer neben sich,
drehte den Kopf mühsam zum Monitor am Kopfende ihres Bettes.
»Schlaganfall«, sagte der Arzt, »keine Sorge, nur
ein leichter. Sie werden sprachlich nicht eingeschränkt bleiben. Und das mit
dem linken Arm, das kriegen Sie auch bald wieder hin.«
Sie nickte.
»Ich verstehe das nicht so richtig«, sagte der
Arzt, »Ihre Befunde sehen nicht nach einem solchen Zusammenbruch aus.
Körperlich sind Sie ein recht gesunder Mensch. Ist denn irgendetwas anderes?«
»Nein!«, wollte sie erwidern, doch sie konnte
nicht sprechen. Sie versuchte den Kopf zu schütteln. Der Arzt legte seine Hand
kurz zur Beruhigung auf die Bettdecke. »So ein Schlaganfall kann auch mal durch
Stress ausgelöst werden, psychischen. Also, wenn da etwas sein sollte, müssen
Sie es angehen. Damit wir uns hier nicht wiedersehen und Sie vielleicht nicht so
gut wie dieses Mal davonkommen. Okay?«
Sie versuchte zu nicken. Dabei kamen ihr die
Tränen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte.
Hatte sie überhaupt schon mal geweint? Sie wollte sich die Tränen wegwischen.
Doch ihr linker Arm war wie gelähmt und der rechte hing an dieser verdammten
Infusion.
Der Arzt sagte im Hinausgehen: »Im
Schwesternzimmer können Sie sich die Kontaktdaten einer Therapeutin geben
lassen, bevor Sie uns verlassen. Ist eine, die ich empfehlen kann. Und ich rate
Ihnen, mit dem Rauchen aufzuhören.«
Sie wandte das Gesicht zum Fenster. Ganz bestimmt
werde ich das nicht tun, dachte sie, das mit der Therapeutin nicht und das mit
dem Rauchen auch nicht! Dieser Arzt roch doch selbst nach Qualm!
Sie war allein in dem Zimmer, allein mit der
alten Frau dort im anderen Bett, die nicht zählte, weil sie nur noch so dalag
und sich nicht rührte. Allein war sie, wie damals. Fixiert an dieses Bett, wie
damals. Als wäre es ihre Schuld, dass sie jetzt hier sein musste.
Immer war es ihre Schuld.
Als sie vier oder fünf Jahre alt war, hatte sie
angefangen das zu glauben. Hatte es geglaubt, bis sie erwachsen war. Und jetzt
fing sie wieder damit an. Das musste aufhören! Sie war Mitte vierzig! Sie
wollte nicht, dass das von vorn losging. Es hatte doch gut funktioniert. All
die Jahre, bis heute. Sie hatte gut funktioniert. Sie musste etwas tun, dass es
wieder so sein würde.
Endgültig.
EINS
Graue Wolken zogen über Travemünde. Jedes Mal, wenn ein
Stück blauer Himmel sichtbar wurde, erschien für einen Augenblick die Sonne und
ließ das Meer glitzern. Nina stand am Fenster und sah durch das Fernglas. Die » MS Azzuro« lief aus dem Hafen über die Trave, mit
dreimaligem Hupen und einer scheppernden Begleitmelodie. Aus dem
neunundzwanzigsten Stockwerk wirkte das Lotsenboot, welches das
Kreuzfahrtschiff hinausbegleitete, unwirklich klein, wie auch die vielen
Segelboote, die im Jachthafen lagen, und die wenigen, mit denen sich die
Besitzer bei diesem Wetter hinaus auf die Ostsee gewagt hatten.
Es war Ende Juni, und es war kalt in Travemünde. Von den vielen
Strandkörben, die seit Pfingsten bereitstanden, waren nur wenige belegt. Am
Priwall trauten sich zwei oder drei Leute ins Wasser. Ein paar Hunde tobten
dort den Strand entlang. Gerade legte die Priwall-Fähre an, nur vereinzelte
Spaziergänger stiegen aus.
Nina liebte den Blick aus diesem unbewohnten Apartment im
neunundzwanzigsten Stockwerk des Maritim. Immer bevor sie sich hier
Staubsauger, Wischeimer und Putzmittel herausholte, nahm sie das alte Fernglas,
das auf einem Bord stand, und blickte über die Trave.
Vier Wohnungen musste sie an diesem Tag putzen. Frau Bergmanns
zuerst. Nach dem Tee mit der älteren Dame hatte diese Nina einen Schlüssel für
das »Kinderzimmer« gegeben, wie Frau Bergmann dieses kleine Apartment immer
noch nannte. Das Apartment war längst eine Abstellkammer geworden. Kinder
hatten hier schon lange nicht mehr gewohnt. Nicht mal Ninas Mutter konnte sich
erinnern, dass Frau Bergmann in den letzten Jahren Besuch gehabt hätte, und
Ninas Mutter putzte seit etwa dreißig Jahren im Maritim. Nina erst seit acht
Wochen. Seit ihre Mutter es mit der Bandscheibe hatte, war sie eingesprungen,
damit der kleine Nebenjob in der Familie blieb. Bis Ninas Mutter wieder
arbeiten konnte, vielleicht wieder beim Stadtbäcker und hier nebenbei. Und bis
Nina dann nach Hamburg zurückkehren konnte.
Ihr Handy klingelte. Auf dem Display sah sie die Nummer
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