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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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sich die schlimmsten Sachen vor und wollte doch nichts sagen, er druckste herum und versuchte auf Umwegen, etwas zu erfahren. Mama war direkter. Raten Sie, was sie befürchtet haben!«
    »Was weiß ich?«
    »Daß ich ein Kind erwarte! … Über einen halben Tag lang haben sie in dieser Angst gelebt, und als Sie kamen …«
    Noch bevor sie weitersprach, war er schon rot geworden.
    »… Verstehen Sie nun, warum mein Vater Sie immer wieder ansah?«
    Sie schwiegen wieder. Sie waren vor einer aus Brettern zusammengenagelten Schenke angelangt. An Sonntagen wimmelte es hier von Ausflüglern, die lärmend im Gras lagerten, picknickten und das Grammophon laufen ließen.
    Wochentags war der Ort menschenleer. Die Quelle floß direkt an der Schänke vorbei, hinter der terrassenförmig ansteigende Gärten mit grünen Laubengängen angelegt waren.
    Leylas Esel war von selbst stehengeblieben, ein kleiner Junge hatte schon das Halfter ergriffen und das Tier an einem Strauch festgebunden.
    »Darf ich Sie zu einer Erfrischung einladen?« fragte Jonsac und sprang aus dem Sattel.
    Sie gingen um die Schänke herum und stiegen den Garten empor. Jonsac hatte bei seiner Begleiterin untergefaßt, und schon diese harmlose Berührung genügte, um sie beide zu verwirren.
    »Wie wäre es dort?« fragte der Kellner und zeigte auf die am dichtesten bewachsene Laube. »Was darf ich Ihnen bringen?«
    »Limonade.«
    Um einen grobgezimmerten Tisch herum zog sich eine kreisförmige Bank. Als der Kellner mit der beschlagenen Flasche und den Gläsern wiederkam, saßen Jonsac und Leyla stocksteif nebeneinander. Um den Bann zu brechen, öffnete das Mädchen seine Handtasche und fing an, sich umständlich zu pudern.
    »Eine richtige Postkartenidylle, nicht wahr?« sagte sie, um etwas zu sagen.
    »Postkarten sind oft ehrlicher als lange Briefe«, antwortete er.
    ›… erst wenn sie erreicht hat, was sie will …‹
    Er verscheuchte ein für allemal Nouchis Bild, oder begann vielmehr, ihm zu trotzen.
    »Das ist sehr wahr, was Sie da sagen«, erwiderte Leyla langsam.
    Niemand konnte sie sehen. Von den wenigen Passanten auf dem Weg waren lediglich die Stimmen zu hören. Fliegen umschwirrten ihre Köpfe.
    »Warum sind wir hierhergekommen?«
    Sie redete hastig und sah unruhig umher. Sie saßen sehr nahe beieinander. Jonsac sah Leylas blonden, ins Rötliche spielenden Nacken. Auf der Haut standen winzige, glänzende Perlen. Er glaubte, den Geruch des erhitzten Körpers wahrzunehmen.
    Sie machte eine winzige Bewegung. Vielleicht wollte sie wieder nach der Handtasche greifen oder einfach einen Schluck aus ihrem Glas trinken. Da verließ auch ihn die Starre und er packte, ganz oben an der Schulter, ihren nackten, feuchten Arm.
    Sie drehte sich erschreckt um.
    »Was tun Sie da? … Nein! …«
    Trotz ihrer unglücklichen Miene wehrte sie sich nicht, sondern ließ den Mann gewähren, dessen Lippen sich über ihre Wange zum Mund vortasteten.
    Der Kuß schmeckte nach Sommer, nach Landschaft, nach sonnenerwärmter Haut, sogar nach Pflanzen, als würde das Grün um sie herum mitmachen.
    Durch die halb geschlossenen Lider sah Jonsac Leylas weit aufgerissene Augen. Sie starrten ihn an, von so nah, daß er zusammenfuhr und das Monokel verlor, das erst auf der Hand des Mädchens landete und dann am Boden zerschellte.
    Schlagartig lösten sie die Umarmung. Jonsac beugte sich vor und schob die beiden Scherben mit der Fußspitze weg. Er versuchte zu lächeln.
    »Es ist gewöhnliches Glas. Scherben bringen Glück«, scherzte er.
    Er war sehr rot. Ihm war heiß.
    »Es ist Zeit, wir müssen gehen«, sagte Leyla und stand auf. »Haben Sie schon bezahlt?«
    »Ja … Ich weiß nicht … Ich rufe den Kellner …«
    Am schlimmsten war für ihn der Verlust des Monokels, denn er wußte, daß sein Gesicht dadurch verändert wurde.
    »Ich sehe wahrscheinlich aus wie eine Eule im Sonnenlicht. Wissen Sie, daß ich sehr kurzsichtig bin?«
    Sie stand schon und wartete, daß er auch soweit war. Aus ihrem Gesicht war jede Regung verschwunden. Der Kellner erschien schließlich und wunderte sich, daß das Paar schon wieder gehen wollte. Jonsac zog es vor, nicht wieder aufzusitzen und seinen Esel am Halfter zu führen.
    »Sonst habe ich immer ein Ersatzmonokel dabei.«
    »Und heute haben Sie keines!« stellte sie ungerührt fest.
    Würde auch sie ihn jetzt für einen Weichling und Schwächling halten? An der Anlegestelle mußten sie fast eine halbe Stunde lang in der prallen Sonne warten. Die

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