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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Schiff legte unterwegs immer wieder an, Leute stiegen aus und ein. Durch eine Öffnung im Korb der Bäuerin streckte eine Ente den Kopf heraus, und Leyla streichelte ihr mit behandschuhtem Finger den Schnabel.
    »Haben Sie unser Haus gesehen? Es ist recht nett. Der Garten ist hübsch. Andererseits ist es auch trist dort, besonders wenn mein Vater seine Neuralgien hat.«
    Man konnte nicht nur das Haus sehen, sondern auch den gelben Kahn, der in einem Miniaturhafen vertäut war.
    »Wissen Sie, daß ich Ihnen böse war?« sagte Leyla plötzlich und wandte sich ab.
    »Warum?«
    »Ich habe am Sonntag gesehen, daß Leute auf der Jacht waren, die auch im Yali dabei waren, in der Nacht, als …«
    Sie verstummte einen Augenblick und fuhr dann fort:
    »Es ist dumm von mir … Aber ich dachte mir, Sie würden diese Leute meiden … Was hat man danach über mich gesagt?«
    »Ich hätte niemandem erlaubt, irgend etwas zu sagen.«
    Er log, weil er nicht anders konnte.
    »Ich kann ihnen nicht ganz aus dem Weg gehen«, sagte er. »Die meisten sind nicht interessant.«
    Schon wieder ein Ausdruck von Nouchi! Verfolgte sie ihn schon bis in die letzten Winkel seines Lebens hinein?
    »Tun diese Leute eigentlich gar nichts?« fragte sie.
    »Nicht viel. Unter dem Sultan wären sie reich gewesen und hätten hohe Ämter in der Armee oder in der Verwaltung bekleidet. Sie können sich nicht dazu aufraffen, einer geregelten Arbeit nachzugehen, lieber zehren sie den Rest ihres Vermögens auf. Sie können mit den geänderten Zeiten nichts anfangen und wollen sich nicht umstellen.«
    Das Schiff legte wieder an, und alle Passagiere stiegen aus. Eine leichte Brise wehte vom Schwarzen Meer her, das man hinter einem blaßgrauen Kap am Ende des Bosporus gerade noch erkennen konnte. Leyla folgte der Menschenmenge. Sie hielt den Kopf gesenkt und sah zu Boden, und plötzlich sagte sie halblaut:
    »Ich weiß nicht, wie Sie auf meine Frage reagieren werden. Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie sie nicht zu beantworten … Nein, lassen wir es!«
    »Fragen Sie!«
    »Sie werden sich denken, ich … Lassen wir es lieber …«
    »Reden Sie, ich bitte Sie.«
    »Gut, ich tu’s! … Sind Sie verheiratet?«
    Ohne das Monokel hätte sie ihm die Verwirrung vom Gesicht ablesen können. Um Zeit zu gewinnen, stammelte er:
    »Mit Nouchi?«
    »Ja, mit Nouchi natürlich!« lachte sie. »Es sei denn, sie hätten einen ganzen Harem!«
    »Ich bin nicht verheiratet …«
    Wieder wandte sie sich ab, so daß er nicht sehen konnte, wie sie es aufnahm.
    »Kennen Sie sie schon sehr lange?«
    »Nicht sehr lange.«
    »Stimmt es, daß sie Tänzerin ist?«
    »Ja, sie ist Tänzerin. Wer hat es Ihnen gesagt?«
    »Uzun … Müfti Bey …«
    Sie warf den Kopf herum und rief:
    »Wir haben Glück! Es sind Esel frei!«
    Sie stürzte zu dem Türken, der die Tiere vermietete, und handelte mit ihm den Preis aus.
    »Welchen wollen Sie? Den größeren natürlich, andersherum würde es ja auch komisch aussehen.«
    Auch so sah es noch komisch aus, wie er auf dem schmalen Pfad entlang des Talgrunds hinter ihr herritt, im selben Trott wie sie. Die Luft war drückend, wie überfrachtet von all den Gerüchen des üppigen Grüns, dem süßlichen Duft der Blumen und dem aufsässigen Schwirren der Insekten.
    Leyla ritt im Damensitz und ließ ihre Beine baumeln. Jonsac, dem sie sich so im Profil präsentierte, sah sie unverwandt an, doch was er durch das Hitzeflimmern hindurch erkennen konnte, beschränkte sich auf ein weißes Kleid, eine Nackenlinie und einen hellen Fleck an der Stelle des Gesichts.
    ›… Sie wird sich erst zufriedengeben, wenn sie erreicht hat, was sie will …‹
    Auch das war Nouchi! Sie war allgegenwärtig! Sie verfolgte ihn selbst hier, wo er sich weit von ihr entfernt glaubte.
    »Woran denken Sie?« fragte Leyla und drehte sich zu ihm um.
    »An nichts.«
    »Sie sehen traurig aus.«
    Er gab keine Antwort, und sie ritten schweigend weiter. Beide gaben sich ungehemmt ihrem Trübsinn hin.
    »Schade, daß ich nicht tot bin«, seufzte Leyla endlich, glaubte aber, das Gesagte durch ein Lächeln wieder abschwächen zu müssen.
    »Reden Sie nicht mehr davon.«
    »Sie sind sofort gekommen, nicht wahr? Mein Vater hat es mir gesagt. Er wußte nicht, wer Sie waren und wie er Ihnen begegnen sollte. Nachher hat er mir Fragen gestellt.«
    Sie lächelte immer noch. Ihr Körper wiegte im Takt mit dem Schritt des Esels.
    »Armer Papa! So verlegen, so geniert habe ich ihn noch nie erlebt. Er stellte

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