Der Stammgast
halbtags bei der Zeitung arbeitete, taten ihre Freunde nichts, sie telefonierten von früh bis spät miteinander, verabredeten sich und promenierten stundenlang in der Grande Rue von Pera.
»Nouchi ist heute abend in der Oper. Sie bittet dich, nach dem zweiten Akt in die Loge von Amar Paşa zu kommen«, teilte man Jonsac mit.
Sie sprachen inzwischen von Nouchi als einer der Ihren. Sie hatten sie in ihren Kreis aufgenommen.
›Sie liebt an dir das genaue Gegenteil von dem, was ich an dir liebe …‹
Wahrscheinlich stimmte das. Mit Sicherheit stimmte, was Nouchi danach gesagt hatte:
»Sie sieht in dir den starken Mann, verstehst du? Dein Monokel, deine Steifheit, deine scheinbare Unerschütterlichkeit beeindrucken sie. Sie glaubt, du seiest jemand, auf den man sich als Frau stützen kann.«
Nouchi sagte es ohne Bosheit, sogar mit ihrem zärtlichen Lächeln.
»Ich möchte sogar wetten, daß sie dich auch ein wenig meinetwegen liebt! Sie sieht uns kommen und gehen, ein bewegtes Leben führen, im Auto herumfahren und ganze Nächte lang Feste feiern, und sie ist überzeugt, daß du die treibende Kraft bei diesem Leben bist. Wie soll ich es sagen? Für sie bin ich dein Werk, etwas, was du hervorgebracht hast …«
Sie hatte dies vor einer knappen Stunde gesagt, auf ihrem Bett sitzend und die Zehennägel polierend.
»Ich sehe nur nicht ein, warum du dann mit mir zusammenlebst!« hatte Jonsac beleidigt geantwortet, ohne seine Rasur zu unterbrechen.
»Weil du so bist, wie du bist! Ein schüchterner und sentimentaler großer Junge, der vor allem Angst hat.«
Er war grußlos gegangen. Doch er mußte ihr recht geben. Zum Beispiel: Als er sich das Monokel zugelegt hatte, war er Sekretär eines Abgeordneten gewesen, der berüchtigt war wegen seiner Ausbrüche am Rednerpult und seiner Brutalität im Privatleben. Jonsac arbeitete ohne Bezahlung. Er tat es, um sich mit der Politik vertraut zu machen. Doch er lebte in ständiger Angst vor seinem Chef, dessen Büro er nicht zu betreten wagte, wenn er wußte, daß er wütend war.
Die Idee mit dem Monokel hatte er einem deutschen Diplomaten abgeschaut, und er hatte wochenlang in seinem Zimmer geübt, bevor er sich damit in die Öffentlichkeit getraute.
Am allermeisten hatte er nämlich Angst, ausgelacht oder auch nur leise belächelt zu werden. Wenn junge Mädchen sich kichernd nach ihm umdrehten, verlor er augenblicklich die Fassung und blieb vor dem nächstbesten Schaufenster stehen.
Er hatte auch Angst, jemandem weh zu tun, unhöflich zu sein oder zu mißfallen. Er war abhängig davon, daß die Leute eine gute Meinung von ihm hatten, und nur selten getraute er sich, ihnen zu widersprechen.
»Merk dir gut, was ich dir sage: Diese An von Mädchen hat weniger Hemmungen als wir. Sobald du nachgibst, bist du geliefert …«
Das war ein weiterer Ausspruch Nouchis, und Jonsac wußte, daß sie auch damit recht hatte. Er hatte ihr nicht gesagt, daß er am Abend zuvor, als er allein zu Hause war, einen Anruf erhalten hatte.
»Jonsac?« hatte Leylas ruhige Stimme gefragt.
Und dann hatte sie mit verwirrender Dreistigkeit wissen wollen:
»Ist Nouchi auch da?«
»Sie ist eben weggegangen.«
»Was machen Sie den ganzen Tag? Ich langweile mich zu Tode.«
Es entstand eine Pause. Jonsac wußte nicht, was er sagen sollte.
»Wir müssen nächstens wieder zusammen essen gehen, Nouchi und ich, wie das letzte Mal. Gehen Sie immer noch zu Avrenos?«
»Jeden Mittag.«
»Letzten Sonntag scheint es sehr lustig zugegangen zu sein bei Ihnen.«
»Ich fand es überhaupt nicht lustig, glauben Sie mir.«
»Das sagen Sie so! … Schön, ich will Sie nicht weiter stören. Grüßen Sie Nouchi von mir …«
Eigentlich hätte Jonsac an diesem Mittag in Therapia essen sollen, denn er hatte in der Botschaft zu tun. Er war gleichwohl zu Avrenos gekommen, weil er aus Leylas Worten eine Art Verabredung herausgehört hatte.
Statt seine Zeitung zu lesen, sah er auf die sonnenüberflutete Straße hinaus, wo Einheimische mit Körben auf dem Kopf vorbeieilten. Avrenos war gekommen und hatte ihm die Hand gegeben.
»Wie geht es Ihnen? Gut?«
»Danke!«
Auch für Avrenos, wie wohl für die meisten seiner Gäste, war er eine respektable Persönlichkeit.
»Man sieht Sie abends in letzter Zeit kaum noch … Sie scheinen ja jede Nacht tüchtig zu feiern …«
Er lächelte geheimnisvoll und blickte schräg aus dem Fenster, denn er hatte am Ende des Gäßchens, wo die Autos nicht mehr weiterfahren können,
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