Der Stammgast
den gleichen Träumereien hingeben. Seit Jahren hatte er kein Buch mehr gelesen, doch ständig klangen ihm Verse in den Ohren, die seine Freunde vor sich hin deklamierten, wie jemand anders Lieder trällert.
Und jetzt war wieder ein Morgen, an dem er so trübsinnig und lustlos war wie ein krankes Tier. Wo hatten sie sich letzte Nacht schon wieder herumgetrieben?
Nouchi hatte mit Amar Paşa diniert, und Jonsac hatte die Gelegenheit genutzt, um bei Avrenos zu essen, wo er Tevfik und die beiden Ahbad-Brüder, den Bildhauer und dessen Bruder mit dem Kalmückengesicht, traf. Wie immer war man dann zusammen nach Pera spaziert.
»Wir könnten bei Selim vorbeischauen.«
Selim Bey war zu Hause, Müfti war schon bei ihm, und so hatte man getrunken und ein paar Haschischpfeifen geraucht. Keiner hatte mehr ein Zeitgefühl, als man hinausging, um Luft zu schnappen. Die Kinos leerten sich gerade. Vor dem Restaurant Abdullah war man Nouchi und Amar begegnet, als sie eben aus der Tür traten.
»Was haben Sie noch vor?«
»Und Sie?«
Schon lange hatte man es aufgegeben, sich einen neuen Zeitvertreib auszudenken. Erst ging man ins › Chat noir ‹ ,dann, weil dort nicht viel los war, in ein schmutzigeres Nachtlokal, das › Cristal Palas ‹ ,wo es faden, von Amar Paşa bezahlten Champagner zu trinken gab.
Nouchi hatte die Leute vom Nachbartisch angesprochen, und man hatte mit ihnen zusammen eine größere Clique gebildet. Dann hatte jemand, wahrscheinlich einer der Ahbad-Brüder, einen Spaziergang zu den Gräbern des alten Friedhofs von Eyüp vorgeschlagen.
Alle waren einverstanden gewesen. Der Vorschlag war keineswegs lächerlich, er war durchaus der Atmosphäre, der Gemütslage, auch der Stadt gemäß. Jonsac hatte unter ähnlichen Umständen schon Dutzende Male dort die Nacht beschlossen, und wenn einer der Freunde eine Eroberung gemacht hatte, war es schon fast Tradition, daß man nach Eyüp pilgerte und der Dame den Mondschein über dem Friedhof zeigte.
Man zwängte sich in Taxis. Amar Paşa und Nouchi setzten sich in das erste, Jonsac in ein anderes. Auf dem Friedhof schlenderte man in den Alleen herum und deklamierte Gedichtstrophen, oder Müfti Bey las Inschriften vor und zeigte die Gräber seiner Vorfahren, wobei er ihr prunkvolles Leben schilderte.
Das eindeutigste Ergebnis war, daß man um fünf Uhr früh zu Bett gegangen war und Jonsac sich jetzt lustlos und mit Kopfweh zu den verschiedenen Ämtern aufmachte, bei denen er für die Botschaft etwas zu erledigen hatte.
»Deine Freunde sind nicht interessant«, hatte Nouchi am ersten Abend behauptet.
Nun brauchte sie sie ebensosehr wie er selbst, sie war die erste, die herumtelefonierte, um Treffen zu vereinbaren und die Abende auszudehnen, und sei es mit einem Spaziergang auf einen Friedhof.
Und beneidete nicht sogar Leyla sie um ihr Leben! Beim Gedanken an das Mädchen runzelte Jonsac die Stirn, und er hörte Nouchi wieder sagen, während sie sich auszogen:
»Immer noch nichts passiert? Ja, mein Lieber, du hast die Gelegenheit verpazt, und allmählich heißt es aufpassen, daß du der Kleinen nicht zuwider wirst. Wenn ein Mädchen tut, was sie getan hat, um einen Mann zu bekommen, und er nichts weiter tut, als sie täppisch zu küssen und dabei sein Monokel fallen zu lassen …«
Es stimmte, daß Leyla abweisend gewesen war auf dem Rückweg von den ›Süßen Wassern‹. Aber hatte sie nicht versprochen, mit ihm zusammen bei Avrenos zu essen?
Jonsac mußte den Polizeipräsidenten sprechen. Normalerweise war dieser immer frei, doch der Zufall wollte, daß er eine Besprechung hatte, und Jonsac mußte fast eine Stunde in den menschenleeren Gängen der Vilayet warten. Der Rahmen war trostlos, und seine Gedanken wurden dadurch noch düsterer.
Es waren nicht nur die Müdigkeit und der Brummschädel, den er dem Alkohol und dem Haschisch zu verdanken hatte. Schuld war auch Nouchis lachende Feststellung vom Vorabend:
»Dein Ehebruch steht mir offenbar noch nicht bald ins Haus!«
Was sich danach abgespielt hatte, war so grotesk gewesen, daß er es so schnell nicht wieder vergessen würde. Nouchi hatte längst jedes Schamgefühl ihm gegenüber verloren. Sie war fast nackt gewesen, als sie sich über ihn lustig machte, und er hatte sie mit funkelnden Augen angesehen.
»Mach kein solches Gesicht!« spottete sie, während sie ein weiteres Wäschestück fallen ließ. »Nur weil ich dir die Sachen auf den Kopf zu sage …«
Er hatte sich buchstäblich auf sie
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