Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
ohnehin wichtiger war als Ehre.
Lyall ging vom äußeren Ring über den gepflasterten Hof, der die Einflusssphären voneinander trennte, und betrat den Garten. Dort blieb er einen Augenblick zwischen den Azaleen und Bougainvilleen stehen und betrachtete alles und nichts.
Dann sagte er zu den Azaleen oder vielleicht zu den Goldfischen: »Ich möchte das Oberhaupt der Wyred sprechen. Es ist ausgesprochen dringend.«
Er blieb noch eine Weile stehen und lauschte dem Summen der Bienen und beobachtete, wie die Schmetterlinge zwischen den Blüten tanzten, dann ging er mit gekünstelter Lässigkeit weiter, obwohl er immer unruhiger wurde. Er konnte nur hoffen, dass man ihn gesehen und gehört hatte. Wenn das nicht der Fall war oder die Wyred aus irgendeinem Grund nicht mit ihm sprechen wollten, hatte er keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. Wahrscheinlich würde er diesen Plan aufgeben und sich etwas anderes einfallen lassen. Aber sie hatten nicht mehr viel Zeit.
Der Weg, auf dem er ging, führte zu einem Fischteich. Lyall blieb einen Augenblick stehen und sah sich die Fische an, dann drehte er sich um, weil er zum Tor zurückkehren wollte.
Die Wyred stand vor ihm, so nah, dass Lyall beinahe mit ihr zusammengestoßen wäre.
Lyall hatte keine Schritte gehört und nicht gespürt, dass sich jemand näherte. Er zuckte gewaltig zusammen und machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts, der ihn beinahe in den Fischteich befördert hätte. Mühsam fand er das Gleichgewicht wieder. Er war zornig. Rasch schluckte er diesen Zorn herunter und verbeugte sich.
»Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid. Ich fühle mich geehrt.«
»Nein, das tut Ihr nicht«, sagte die Wyred kühl. »Diese Begegnung kostet Euch Ehre. Aber das ist egal. Um was geht es bei dieser dringenden Angelegenheit, die Euch dazu veranlasst, alle ungeschriebenen Gesetze zu brechen?«
Er starrte die Frau an und war kaum im Stande, den Blick abzuwenden. Die tätowierte Maske rund um ihre Augen war das übliche Zeichen ihrer Herkunft, aber zusätzlich zu dieser Maske trug sie die Tätowierungen, die sie als Wyred kennzeichneten. Diese Tätowierungen waren erheblich kunstvoller. Wirbel und Kreise, Linien und Symbole wanden sich über ihre Wangen und um ihr Kinn. Gaben diese Tätowierungen Hinweise auf ihre Position bei den Wyred? Hatten sie etwas mit ihrer Magie zu tun? Oder war es eher persönlicher Schmuck? Er konnte es nicht wissen. Er versuchte, sich wieder auf die Gegenwart zu konzentrieren, aber er konnte den Blick kaum von ihrem Gesicht losreißen.
»Ihr sagtet, es ginge um eine dringende Angelegenheit«, sagte sie leicht ungeduldig.
Dank der Tätowierungen war es auch schwer, ihr Alter zu schätzen. Ihr Blick war unergründlich. Dieser Blick gab nichts, er nahm nur. Sie hatte die Hände in die langen Ärmel gesteckt, deren Manschetten aus bunter Seide bis zum Boden reichten. Ihr Seidengewand schmückte ein kunstvoll gesticktes goldenes Muster aus Vögeln.
»Habt Ihr vom Ausbruch des Krieges zwischen dem Schild und dem Göttlichen gehört?«, begann Lyall.
Die Wyred zog die Brauen hoch, verblüfft über solche Offenheit. »Ja.«
»Ihr wisst sicher auch, dass meine Streitmacht von tausend Soldaten auf hundert reduziert wurde«, fuhr Lyall fort.
»Ja, ich bin mir dessen bewusst.«
»Hat man…« Lyall hielt inne. Er musste darauf achten, es angemessen auszudrücken. »Hat man Euch ebenfalls dazu veranlasst, Eure Kräfte entsprechend zu reduzieren?«
Zunächst schien es so, als wollte die Wyred die Antwort verweigern, aber dann, nach einem Augenblick des Nachdenkens, nickte sie abrupt.
Lyall nahm diese Nachricht schweigend entgegen, dann sagte er: »Ihr wisst, dass einige unserer Späher nicht zurückgekehrt sind und dass es Berichte über andere seltsame Ereignisse im Wald gibt. Ihr wisst, dass die Leute aus dem Dorf unruhig sind. Viele sind weggezogen. Ihr wisst, dass die Anzahl von Reisenden aus dem Menschenland merklich nachgelassen hat, und dass die wenigen, die noch durchkommen, von Kriegen in Dunkarga und Karnu und von Unruhen in Nimorea und anderen Menschenländern berichten.«
»Das alles weiß ich«, bestätigte sie. »Und noch viel mehr. Da draußen im Wald befindet sich eine Armee. Sie ist riesig. Wir nehmen an, es handelt sich um einen Teil der gleichen Armee, die Karnu und Dunkarga angegriffen hat.«
Lyall lauschte entsetzt.
Die Wyred fuhr fort: »Der Schild weiß von dieser Armee.«
Lyall starrte sie fassungslos an. »Er
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