Der steinerne Kreis
ionisiert und damit elektrisch leitend werden. Und dann passiert das Wunder: Die Elektronen trennen sich von ihren Kernen, das heißt, die positiv geladenen Ionen und die Elektronen sind nicht mehr zu Atomen kombiniert, sondern verhalten sich wie die Mischung zweier Flüssigkeiten, und diesen Zustand der Materie nennt man Plasma. Die Temperatur steigt weiter, und es ereignet sich das zweite Wunder: Die Tritiumkerne verschmelzen und verwandeln sich in neue Atome – Heliumisotope. Aber in Wirklichkeit, und das habe ich Ihnen schon gesagt, ist das nur ein einziges Mal passiert.«
»Welchem Zweck diente das Experiment?«
»Langfristig hätte die Kernfusion eine geradezu titanische Energie liefern sollen, viel mehr als unsere gegenwärtigen Kernkraftwerke. Und das Ausgangsmaterial ist in sehr großen Mengen im Meerwasser vorhanden. Leider wurde die Anlage 1972 stillgelegt, und die Russen haben sich seither nicht mehr für die Technik interessiert. Zwar forschen die Europäer in dieser Richtung weiter, aber bislang hat noch niemand ein befriedigendes Ergebnis erzielt, das heißt eine positive Energiebilanz: Es wurde immer mehr Energie hineingesteckt, als herauskam.«
Diane versuchte zu schlucken, doch vom Staub waren Kehle und Mund ausgedörrt. »Und … war das gefährlich?«, fragte sie. »Ich meine, wurde Radioaktivität freigesetzt?«
»In der Kammer ja. Durch die Neutronenbombardierung luden sich die Materialien, aus denen die Maschine besteht, Kobalt zum Beispiel, radioaktiv auf, und diese Radioaktivität hält sich ein paar Jahre. Aber abgesehen davon bestand keine Gefahr, denn die Wände der Kammer – Blei und Kadmium – absorbierten die Neutronen.«
Diane konnte sich nicht vorstellen, wie Rolf van Kaen, Arzt und Akupunkteur, und Philippe Thomas, Psychologe und wieder ausgebürgerter Dissident, in diese Umgebung passen sollten.
»Ich habe die Namen von zwei Personen, die, glaube ich, in dieser Anlage gearbeitet haben«, sagte sie. »Können Sie nachprüfen, ob sie dem damaligen Team angehörten?«
»Kein Problem.«
Diane buchstabierte die Namen der beiden Männer und nannte ihr jeweiliges Fachgebiet. Kamil blätterte in seinen Listen. Das Papier zerfaserte unter seinen Fingern wie altes Pergament.
»Sie stehen nicht drin«, sagte er schließlich.
»Sind die Listen vollständig?«
»Ja. Wenn sie im Tokamak selber gearbeitet haben, müssten sie drinstehen.«
»Was meinen Sie?«
»Na, die Anlage des TK 17 war ja riesig! Eine Stadt für sich. Tausende haben hier gearbeitet. Und es gab Nebenabteilungen.«
Diane sah einen Hoffnungsschimmer. »Was für Abteilungen? Könnten van Kaen und Thomas in einem anderen Bereich der Anlage beschäftigt gewesen sein, auf ihrem jeweiligen Fachgebiet?«
Kamil trommelte mit den Fingerspitzen auf seinen Akten. Seine mandelförmigen Augen funkelten verschmitzt. »Ein Akupunkteur und ein Psychologe: Sie könnten dem allergeheimsten Bereich des TK 17 angehört haben. Darin ging es um Parapsychologie.«
»Wie bitte?«
»Es gab hier auch ein Labor für experimentelle Psychologie. Ein Betriebsbereich, der sich mit unerklärlichen Wahrnehmungs- und Beeinflussungsphänomenen befasste. Telepathie, Hellsehen, Psychokinese … Dafür gab es damals in der Sowjetunion mehrere Zentren.«
Es war, als hätte sich unversehens eine Tür geöffnet, von deren Existenz Diane nichts geahnt hatte, und dahinter strahlte ein gleißendes Licht. »Und was für Experimente wurden in diesem Labor durchgeführt?«, fragte sie.
Der Mann zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht genau, es ist nicht mein Fachgebiet. Ich glaube, Psychologen und Physiker haben versucht, veränderte Bewusstseinszustände herbeizuführen, beispielsweise unter Hypnose, und Psi-Phänomene hervorzurufen, wie telepathische Beziehungen oder Heilungen durch Magnetismus. Sie untersuchten sie vom physiologischen Aspekt her, aber auch aus magnetischer und elektrischer Sicht …«
»Aber warum war so ein Labor an einen Tokamak angeschlossen – das hat doch nichts miteinander zu tun?«
Kamil fing an zu lachen. »Wegen Talich! Er war auf diese Grenzbereiche geradezu versessen! Neben seiner Arbeit in der Kernfusionsforschung hat er selbst sich mit der von ihm so genannten Bioastronomie beschäftigt: dem Einfluss der Sterne auf den menschlichen Körper, die Temperamente …«
»Wie die Astrologie?«
»In einer wissenschaftlicheren Form. Zum Beispiel interessierte er sich für die hypothetische Wechselwirkung zwischen Gehirn und
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