Der steinerne Kreis
Ihnen etwas ausmachen, mich am Flughafen abzusetzen?«
KAPITEL 47
Zwischen Moskau und Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolischen Republik, liegen fast achttausend Kilometer. Der Flug dorthin ging nachts, mit lediglich einer Zwischenlandung in der westsibirischen Stadt Tomsk. Während der Reise hielt eine einzige Landschaft die Erdoberfläche gefangen: Wald. Ein endloser, eisiger Teppich aus Espen, Ulmen, Birken, Kiefern, Lärchen, abwechselnd zu lichten Hainen gefügt oder zu undurchdringlichem Urwald geballt. Diane erinnerte sich an die Landkarte, die Claude Andreas ihr gezeigt hatte, an die riesige, einfarbige Fläche. Die Taiga: eine Einöde von kontinentalem Ausmaß, die sich erst an der Grenze zur Mongolei auflöst, allerdings nur, um einer weiteren endlosen Ödnis Platz zu machen – der Steppe.
Über die Reise ins Landesinnere hatte Kamil ihr nichts sagen können: Er hatte nie einen Fuß in die Mongolei gesetzt. Seine Kenntnisse über den TK 17 waren nur theoretisch; umso mehr bewunderte er Dianes Entschlossenheit. Er hatte angeboten, ihr in Scheremetjewo die Flugtickets zu besorgen.
Sie stand jetzt im größten Geschäft des Flughafens, suchte sich die wärmste Kleidung aus und stellte im Geist eine Liste der Dinge zusammen, die sie schon hatte. Als sie vor dem Spiegel eine pelzgefütterte Tschapka anprobierte, stellte sie fest, dass die Blutergüsse allmählich verschwanden. Sie fühlte sich stark, erholt, erfüllt von neuer Kraft. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass ihr Vorhaben sie geradezu berauschte. Und diese Trunkenheit war gefährlich, weil sie dazu verleitete, die realen Gefahren der Expedition zu unterschätzen.
»Super.«
Im Spiegel tauchten Kamils Mandelaugen auf. Der Physiker schien den Anblick von Dianes Gesicht in der Umrahmung aus wilden Locken und Pelz zu schätzen. Die Schrammen und blauen Flecken nahm er nach wie vor nicht zur Kenntnis. Er schwenkte ein Bündel blassblauer Tickets und warnte: »Sie haben nicht sehr viel Zeit. Die letzte Maschine nach Tomsk geht in vierzig Minuten.«
Kamil begleitete Diane zum Abflugbereich. Als sie ihre Reisegefährten erblickte, ergriff sie ein neuerliches Befremden: Sie wirkten alle zutiefst niedergeschlagen. Reglos saßen die Fluggäste da, klammerten sich an ihr Gepäck und warfen von Zeit zu Zeit einen resignierten Blick auf die Maschine, die draußen vor dem Gebäude wartete.
»Warum ziehen sie alle so ein Gesicht?«, fragte Diane.
»Für sie ist die Mongolei mehr oder weniger das Ende der Welt.«
»Wieso?«
Kamil lächelte.
»Diane, die Mongolei, das ist nicht mal mehr Sibirien, das ist noch viel weiter weg, und dort unten haben die Russen nichts mehr zu melden. In Ulan Bator erwartet einen nichts anderes als Einsamkeit, Kälte, Kargheit – und Hass. Fast hundert Jahre lang war die Mongolei eine sowjetische Kolonie. Heute sind die Mongolen unabhängig und hassen uns mehr als alles auf der Welt.«
Diane musterte die Leute, die nacheinander durch die Sperre gingen: müde Gestalten und griesgrämige Gesichter, wie ein Zug von Verbannten. Ein Detail fiel ihr auf. »Warum ist kein einziger Mongole darunter?«, fragte sie.
»Die Mongolen haben ihre eigene Fluggesellschaft. Sie würden sich eher einen Arm abschneiden als mit der Aeroflot fliegen. Hass: Wissen Sie, was das bedeutet?«
Sie lächelte matt. »Das klingt ja vielversprechend.«
»Machen Sie’s gut, Diane. Viel Glück.«
Es war ihr unmöglich sich vorzustellen, dass sie in wenigen Sekunden wieder allein sein würde. In einem Ausmaß allein, das kaum vorstellbar war. Im Gehen drehte Kamil sich noch einmal um und sagte unter seiner Kapuze hervor: »Und denken Sie dran: Die Götter mögen es nicht, wenn der Mensch versucht, sie nachzuahmen.«
Die alte Tupolew schwankte und holperte wie ein Zug, und Diane überließ sich der seltsamen Apathie des Nachtflugs. Gleichgültig gegen die unbequemen Sitze, die zerkrümelten Kekse anstelle eines Abendessens, die zu hellen Lampen, die sich – je nach Sitz – nicht aus- oder nicht einschalten ließen, spürte sie auch die Winterkälte nicht, die in die vibrierende Kabine eindrang.
In Tomsk mussten alle aussteigen und wurden durch die Dunkelheit zu einem Lagerhaus am Ende der Rollbahn geschleust. Das Gebäude wirkte wie ein Lazarett, in dem man sie aus Furcht vor Ansteckung unterbrachte. Wortlos setzten sich alle auf die Bänke entlang den Wänden. Im Licht einer nackten Glühbirne betrachtete Diane die
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