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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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schon, wir müssen ganz von vorn anfangen«, sagte er. Dann holte er Luft und begann: »In den dreißiger Jahren waren die stalinistischen Repressionen bis an die Grenzen Sibiriens und das Gebiet der Mongolei vorgedrungen. Es sollte alles vernichtet werden, was sich dem Kreml auf seinem Weg zur Macht in den Weg stellte. Die Lamas, die großen Viehzüchter, die Nationalisten wurden verhaftet. 1932 revoltierten die Mongolen. Die sowjetische Armee überrollte den Aufstand mit Panzern. Die Nomaden waren zu Pferd und besaßen keine anderen Waffen als Gewehre und Knüppel. An die vierzigtausend Menschen wurden niedergemetzelt. Übrig blieb ein Volk ohne Herrscher, ohne Ideen, ohne Religion. 1942 setzten die Sowjets per Dekret die russische Sprache und das kyrillische Alphabet durch.
    Von da an wurden alle Kinder der Steppe und der Taiga in die Schule geschickt. Ziel war es, die Mongolen und die angrenzenden Völker ins große sowjetische Volk einzugliedern. Und auf diese Weise wird Ende der fünfziger Jahre ein Junge – wie viele andere auch – aus der Region Tsagaan-Nuur im Norden der Mongolei nach Ulan-Bator geschickt und dort eingeschult. Er ist zwölf Jahre alt und trägt den russischen Namen Jewgenij Talich. Bereits von Anfang an stellt er außergewöhnliche Fähigkeiten unter Beweis. Mit fünfzehn geht er nach Moskau. Er tritt in den Komsomol ein, die kommunistische Jugendorganisation, und schreibt sich an der naturwissenschaftlichen Fakultät für Mathematik ein. Mit siebzehn sattelt er auf Kern- und Astrophysik um. Zwei Jahre später liefert er seine Doktorarbeit über die Tritium-Kernfusion ab. Talich wird der jüngste naturwissenschaftliche Doktor in der UdSSR.«
    Diane empfand eine Anwandlung von Sympathie für diesen Sohn der Wälder, der sich zum Atomphysiker entwickelt hatte.
    »1965«, fuhr Kamil fort, »wird der hochbegabte junge Wissenschaftler nach Tomsk geschickt; dort steht der TK 8. Zu der Zeit experimentieren die Fusionsreaktoren mit Deuterium, einem anderen Wasserstoffatom; inzwischen verspricht man sich allerdings von Tritium mehr Erfolg. Das ist Talichs Spezialgebiet. Zwei Jahre später wird er in eine wichtige Forschungsanlage versetzt, die wichtigste überhaupt: Es geht um Planung und Bau des TK 17, des größten weltweit je gebauten Fusionsreaktors. Zunächst arbeitet er in der Truppe mit, die für Entwicklung und Steuerung des Reaktors zuständig ist, dann, 1968, leitet er höchstpersönlich die ersten Versuche. Beachten Sie bitte, dass er erst vierundzwanzig ist.«
    Der Russe fuhr jetzt auf der Autobahn; unmöglich zu erraten, in welche Richtung. Diane sah die kyrillischen Hinweisschilder vorüberziehen und lauschte dem Vortrag des Physikers, der bei diesem Thema offenbar in seinem Element war.
    »Am unglaublichsten dabei ist«, erzählte er weiter, »dass der Reaktor in Talichs Heimat steht, in Tsagaan-Nuur.«
    »Wieso eigentlich?«
    »Eine zusätzliche Vorsichtsmaßnahme der Sowjets. Der Westen fing allmählich an, ihre geheimen Forschungszentren ausfindig zu machen, diese Industrie- und Militärstädte in Sibirien, die auf keiner Karte je erwähnt wurden, aber Millionen Einwohner hatten, wie Nowosibirsk zum Beispiel. Einen Reaktor in der Mongolei zu bauen war die Garantie dafür, dass man dort wirklich vor allen Blicken, vor allen Beobachtern geschützt war. Talich der Nomade kehrte also als großer Wissenschaftler in seine Heimat zurück, und mit einem Schlag war er der Held seines Volkes.«
    Sie fuhren jetzt über eine schlecht geteerte Straße voller Schlaglöcher und Frostsprünge von den vergangenen Wintern. Schwarze Felder, wie zusammengekrümmt über ihren Furchen, erstreckten sich in endloser Trübsal. Manchmal tauchten Frauen mit grellbunten Kopftüchern auf, wie unerwartete Blumen. Dann bog Kamil jäh in einen Feldweg ein, und Diane erblickte zu ihrer Verwunderung ein hohes, goldverziertes Tor, hinter dem sich Spazierwege und Rasenflächen abwechselten, alles in relativ gutem Zustand. Am Ende erhob sich ein großes Palais, dunkelrot gestrichen, das aus dem neunzehnten Jahrhundert stammen musste. Dass eine Architektur wie diese bis ins postkommunistische Russland überdauern konnte, hätte sie sich im Traum nicht vorgestellt.
    »Machen Sie nicht so ein Gesicht«, bemerkte Kamil, während er auf dem kiesbestreuten Vorplatz parkte. »Die Sowjets haben nicht systematisch alles kaputtgemacht.«
    Es war eigentlich kein Palais, sondern eher ein Jagdschlösschen, ziemlich groß

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