Der steinerne Kreis
Beteiligung der Lippen, sondern mit einer harten, rauen Zunge. Ja, in Wahrheit hatte Sybille ihre Tochter gar nicht geküsst, sondern geleckt wie ein Tierjunges.
Diane hob die Stimme und sagte: »Du, du bist der Bär.«
KAPITEL 71
Die Masken waren gefallen. Drei Überlebende. Drei Tiere. Drei Kämpfer. Sie warf einen Blick auf die Uhr: vier Uhr morgens. In einer Stunde würde der Morgen grauen. In einer Stunde begann der Kampf. Mit welchen Waffen? Mit bloßen Händen? Mit den chirurgischen Instrumenten? Mit den Automatikpistolen?
Diane dachte an die Lüü-Si-An. Sie konnte sich vorstellen, wie sie den Tsewenen die Kinder gestohlen hatten, die von ihrem Volk als künftige Schamanen verehrt wurden. Sie hatten die Wächter gestohlen und auf Waisenhäuser verteilt, die sie selbst finanzierten.
Aber das entscheidende Element fehlte noch: Wie hatten sie alle gleichzeitig beschließen können, dieses Netz zu organisieren? Wie hatten sie – mindestens zwei Jahre im Voraus – wissen können, dass es Zeit war, die Wächter aus ihrer Heimat fortzuschaffen, und dass die Botschaft auf ihren Fingerspitzen einen Tag im Herbst 1999 nannte?
»Es begann alles mit Träumen«, sagte Paul Sacher, der ihre Gedanken gelesen hatte.
»Mit Träumen?«
»Schon vor zwei Jahren haben wir angefangen, vom steinernen Kreis zu träumen. Im Lauf der Nächte wurde der Traum immer deutlicher und detaillierter. Der Tokamak erfüllte unseren Geist. Wir verstanden die Botschaft: Es galt zu handeln. Der Tag des Kampfes rückte näher.«
Wie sollte sie diese Erklärung akzeptieren? Wie sollte sie glauben, dass sieben Menschen, die in alle Winde verstreut lebten, zur selben Zeit denselben Traum träumten?
»Im Frühjahr 1999«, fuhr der Hypnotiseur fort, »wurden unsere Träume derart intensiv, dass wir wussten, es war so weit. Der Zeitpunkt des Kampfes stand unmittelbar bevor, und es war Zeit, die ausgewählten Kinder zu holen, um das exakte Datum an ihrem Körper abzulesen …«
»Warum habt ihr sie nicht selber adoptiert?«
»Die Wächter sind tabu«, antwortete Sacher. »Wir dürfen sie nicht berühren. Dürfen sie kaum ansehen. Wir konnten also nur diskret beobachten und abwarten, bis das Zeichen auftauchte, und mussten dafür sorgen, dass sie in einer uns nahestehenden Familie unterkamen.«
Diane dachte daran, wie ihre Mutter Lucien beobachtet, scharf gemustert, ihn aber niemals geküsst oder gestreichelt oder auch nur angefasst hatte. Sie hatte ihn im Krankenhaus besucht und einfach nur darauf gewartet, bis das Zeichen erschien. Sie trat auf Sybille zu.
»Wie bist du auf die Idee gekommen, dass ich deinen Wächter adoptieren sollte?«, fragte sie.
Sybille Thiberge heftete einen hochmütigen Blick auf ihre Tochter. »Weißt du es nicht?«, gab sie zurück. »Ich hatte dich schon immer dazu auserkoren.«
»Du meinst, du hast von Anfang an gewusst, dass ich diese Rolle spielen würde?«
»Von dem Moment an, als ich die Regeln des Konzils erfuhr.«
»Woher wusstest du, dass ich bereit wäre, ein Kind zu adoptieren? Woher wusstest du, dass ich nicht in der Lage sein würde, selbst Kinder zu …«
Diane brach ab, niedergeschmettert. Sie hatte die letzte Wahrheit erkannt. Es war ihre Mutter, die sie an einem Abend im Juni, an den Ufern der Marne, überfallen und verstümmelt hatte. Es war ihre Mutter, die das ziselierte Chirurgenbesteck geschwungen hatte.
Zwischen den Glasscherben sank sie auf die Knie. »Mein Gott, Mama, was hast du mir angetan?«
Die Schamanin beugte sich zu ihr hinab, und ihre Stimme wurde messerscharf.
»Nicht mehr als das, was man mir angetan hat«, sagte sie. »Nie habe ich die Schmerzen vergessen, die mich zerrissen, als sie versuchten, dich mit Gewalt aus meinem Bauch zu holen. Ich habe mich gerächt, und ich habe dich auf die Zukunft vorbereitet. Ich musste dafür sorgen, dass mir kein Liebhaber in die Quere käme, der dich womöglich schwängerte. Die Beschneidung unterbindet nicht nur das körperliche Lustempfinden, sondern wenn durch Entzündung auch die kleinen Schamlippen verwachsen, wird aus jedem Sexualakt eine wahre Tortur. Ich hoffte natürlich, dass du nie eine sexuelle Beziehung eingehen würdest. Ich muss gestehen, dass du meine Erwartungen noch übertroffen hast, meine Hübsche.«
Diane schluchzte tränenlos. In diesem Moment ertönte Mawriskis Stimme: »Es ist Zeit.«
Diane hob den Blick: Die Waffen in der Hand, waren die beiden Männer auf dem Weg zur Tür. »Nein! Warten
Weitere Kostenlose Bücher