Der steinerne Kreis
Falle, die auf Hypnose und Lauern im Verborgenen beruhte und grenzenlose Geduld und blitzschnelles Zuschnappen erforderte. Diese Technik erinnerte sie an eine andere Tierspezies: die Schlangen, die ihre Beute fangen, indem sie sich auf dem Schwanz aufrichten und das Opfer mit starrem Blick in Bann schlagen.
Seit ihrer Initiation, seit ihrem symbolischen Tod und ihrer Wiedergeburt in ein wildes Leben im Schutz eines geisthaften Fetischs hatten die Schamanen das Verhalten ihres »Meisters« übernommen. Sie waren von ihrem eigenem Totem besessen.
Van Kaen vom Ren.
Paul Sacher vom Wolf.
Philippe Thomas von der Schlange.
Augenblicklich erinnerte sie sich an weitere Umstände und Details, physische Merkmale, die sie irrtümlich mit den Symptomen einer radioaktiven Verstrahlung in Zusammenhang gebracht hatte, die aber jetzt eine ganz andere Logik aufwiesen.
Rolf van Kaen wies eine Magenschrumpfung auf, die ihn zwang, seine Nahrung zu Brei zu zermalmen, förmlich wiederzukäuen. Langlois hatte diesen Umstand als unerklärliche Anomalie zur Kenntnis genommen. Diane nahm jetzt das Gegenteil an: Zweifellos hatte van Kaen sich jahrelang gezwungen, seine Nahrung wieder hervorzuwürgen, bis zu dem Moment, an dem sich sein Körper an diese absurde Gepflogenheit angepasst, sein Magen sich verformt, sein Stoffwechsel sich verändert hatte und der Mann bis in seine Eingeweide hinein seinem wilden Mentor ähnelte: dem Ren.
Diane hatte auch noch eine klare Erinnerung an die Hypnosesitzung bei Paul Sacher. Im Halbdunkel hatte sie ein seltsames Leuchten in seinen Augen wahrgenommen, als reflektierten sie das Licht – wie Wolfsaugen, bei denen silbrige Plättchen das Licht verstärken. Wie ließ sich diese Eigenheit erklären? Kontaktlinsen? Eine natürliche Veränderung als Anpassung an die Dunkelheit? Jedenfalls hatte Sacher hier sein Attribut, seine Ähnlichkeit mit seinem Totem: dem Wolf.
Noch einleuchtender war der Fall Philippe Thomas. Diane hatte den schuppigen Körper des Toten und die abgestorbenen, abgelösten Hautfetzen in dem Badezimmer aus Bronze und Jade nicht vergessen. Durch reine Geisteskraft war es dem Konservator gelungen, sich eine psychosomatische Krankheit zuzulegen: ein Ekzem, unter dem seine Haut so sehr austrocknete, dass sie sich regelmäßig schälte und erneuerte. Auf diese Weise war er zur Schlange geworden.
Verblüfft folgte sie der Fährte weiter und dachte an die abscheuliche Leiche von Hugo Jochum mit ihren zahllosen braunen Flecken. Der alte Geologe hatte sich diese Hautkrankheit zweifellos zugezogen, indem er sich regelmäßig der Sonne aussetzte, mit dem Ziel, sich das gefleckte Erscheinungsbild einer Raubkatze zuzulegen – eines Leoparden.
Was waren die wilden Vorbilder von Mawriski, von Talich? Wem wollten sie ähnlich sehen? Ein Blick auf den Russen lieferte ihr die Antwort: Aus dem haarlosen Gesicht ragte die gekrümmte Nase wie ein Schnabel hervor. Blitzartig schlossen und öffneten sich die nackten Lider über dem scharfen Blick, und die Bartlosigkeit betonte die natürliche Ähnlichkeit mit einem Raubvogel. Jewgenij Mawriski war der Adler.
Auf einmal brach die Stimme ihrer Mutter in ihre Gedanken ein: »Ich sehe, dass meine kleine Diane nicht mehr bei der Sache ist. Träumst du, meine Liebe?«
Diane erschauderte, aber sie spürte das Blut in ihre tauben Gliedmaßen zurückkehren und stammelte: »Ihr … ihr haltet euch für Tiere.«
Sybille hob die Klinge mit dem Elfenbeingriff und ließ sie im Licht funkeln. In einem kindlichen Singsang sagte sie: »Heiß, ganz heiß, meine Liebe. Aber wenn ich ein Tier bin, hast du auch erraten, welches?«
Diane wurde sich bewusst, dass sie ihre Mutter aus der infernalischen Runde unwillkürlich ausgeklammert hatte. Sie versuchte sich an Details aus Sybilles Privatleben zu erinnern. Es fiel ihr nichts ein. Keine Geste, keine Angewohnheit, kein körperliches Merkmal, das sie auch nur entfernt an ein Tier erinnerte. Nichts, was ihr Aufschluss gab über die Identität des Totems, außer …
Mit einem Schlag tauchte eine ganze Reihe von Bildern auf, und sie schloss für einen Moment die Augen.
Ihre Mutter, die sich die honigverschmierten Finger ableckte.
Ihre Mutter, die sorgfältig ihre Honigtöpfe verstaute.
Ihre Mutter und ihre geliebten Gelee-Royale-Dragees.
Honig.
Die Lust auf Honig lag ihr im Blut.
Diane erinnerte sich auch an die merkwürdigen Küsse, die sie als kleines Kind von ihrer Mutter erhalten hatte. Küsse fast ohne
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