Der steinerne Kreis
führten und dass der einzige Weg, uns die ersehnten Kräfte anzueignen, über unsere eigene Einweihung ging. Ich wusste schon, wie ich Talich überreden konnte, uns zu helfen …«
»Das glaube ich nicht«, fiel ihr Diane heftig ins Wort. »Da bringt ihr die sibirischen Schamanen um, werft Talich ins Gefängnis, verheizt alle seine Landsleute, und dann hättest du ihm bloß in seiner Zelle schöne Augen zu machen brauchen, damit er springt und tut, was du ihm sagst? Blödsinn!«
Sybilles Miene verhärtete sich. »Du unterschätzt meinen Charme, meine Liebe. Aber hier hast du ausnahmsweise Recht – zu dem Zeitpunkt hatte Jewgenij bereits einen anderen Plan.«
»Und zwar?«
»Geduld. Du wirst dich schon an die Chronologie der Geschichte halten müssen.«
Nun ergriff wieder Paul Sacher das Wort; er war ein Mann der Präzision. »Ende April«, sagte er, »haben wir Talich und die tsewenischen Schamanen wieder freigelassen. Neun waren es. Wir haben uns hier in diesem Raum versammelt – ich sehe sie noch vor mir mit ihren ausgemergelten Gesichtern, die Haut schorfig wie Rinde, die schwarzen, zerschlissenen Deels. Wir alle, gemeinsam, haben den Kreis geschlossen, das Konzil konnte beginnen.«
»Das Konzil?«
» Iluk , in der Sprache der Tsewenen«, präzisierte Sybille. »Ein religiöser Rat, wie die vatikanische Bischofskonferenz, nur dass es sich hier eben um Schamanen handelte. Die mächtigsten Schamanen der Mongolei und ganz Sibiriens. Wir hatten sie alle in einen steinernen Kreis zusammengebracht: Die Tsewenen selbst prägten dafür den Begriff ›Das steinerne Konzil‹.«
In Giovanni erwachte der Ethnologe: »Und wie lief die Initiation ab?«, fragte er.
Sybille warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Sich ein Geheimnis aneignen heißt eine Grenze überschreiten. Das Geheimnis preisgeben ist ein Rückfalls ins Diesseits. Wir wurden von den Schamanen in den Wald geführt. Nach und nach gaben wir unsere menschlichen Gewohnheiten auf, vergaßen die Sprache, ernährten uns von rohem Fleisch. Die Taiga drang in uns ein, zerriss uns, vernichtete uns. Wir erlebten einen regelrechten Tod, doch am Ende der Prüfung kehrten wir ins Leben zurück und hielten die Macht in den Händen.«
»Welche Macht denn eigentlich?«, fragte Diane.
»Die Initiation erlaubte uns, die Fähigkeiten, die wir von Natur aus besaßen, auf die Spitze zu treiben.«
Diane fing wieder an zu zittern, die Kälte und die Wahrheit drangen ihr bis ins Mark. Sie wusste, dass in diesem Stadium die Körpertemperatur alle drei Minuten um ein Grad sinkt. Würden sie alle erfrieren? Sie fragte weiter: »Was habt ihr mit den tsewenischen Schamanen gemacht?«
Mawriski verneigte sich mit einer Miene falschen Bedauerns. »Wir mussten sie töten. Unsere Geschichte war die Geschichte der Niedertracht. Die Geschichte vom Streben nach grenzenloser Macht und von grenzenlosem Ehrgeiz. Wir wollten die einzigen Hüter dieser Geheimnisse sein.«
»Und Talich?«, schrie Diane.
»Für Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe war keine Zeit mehr«, antwortete Sacher. »Inzwischen waren die Parteikommissare aufgetaucht, um das Reaktorunglück zu untersuchen. Allein Suyan ist uns entkommen – das ist die Schamanin, der du deine Rettung verdankst.«
»Du und Thomas«, fragte Diane ihre Mutter, »wie seid ihr nach Frankreich zurückgekehrt?«
»Auf die einfachste Weise der Welt. Nachdem wir uns eine Zeit lang in Moskau in Vergessenheit gebracht hatten, konnten wir uns glücklicherweise mit der französischen Botschaft in Verbindung setzen. Wir brauchten lediglich die reuigen Überläufer zu mimen.«
»Und die Russen haben euch einfach so gehen lassen?«
»Zwei französische Parapsychologen von einem Forschungslabor, das nie auch nur den Schatten eines brauchbaren Resultats zustande gebracht hatte? In Breschnews Sowjetunion gab es Wichtigeres zu tun.«
Laut malte sich Diane die Fortsetzung aus: »Dann seid ihr in eure Heimat zurückgekehrt, anonym unter den anderen Anonymen, wie van Kaen, Jochum, Mawriski, Sacher … Und die ganzen Jahre hindurch haben euch eure Psi-Kräfte zu Macht und Reichtum verholfen.«
Sybille lächelte. Ihre Augen hatten einen fiebrigen Glanz.
»Du wirst nie begreifen, was wir besitzen, was wir in uns haben. Die materielle Wirklichkeit hat keinerlei Bedeutung für uns. Wir haben uns immer nur für unsere Fähigkeiten interessiert. Diese großartigen Mechanismen, das Wirken unseres Geistes, das wir erforschen, beobachten,
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