Der Steppenwolf
oder an das sentimentale, schmalzige Lied eines Jazzsängers dieselbe Begeisterung, Ergriffenheit und Rührung wie unsereiner an Nietzsche oder an Hamsun. Maria erzählte mir von jenem hübschen Saxophonbläser Pablo und sprach von einem amerikanischen song, den er ihnen zuweilen gesungen habe, und sie sprach davon mit einer Hingerissenheit, Bewunderung und Liebe, die mich rührte und ergriff weit mehr als die Ekstasen irgendeines Hochgebildeten über ausgesucht vornehme Kunstgenüsse. Ich war bereit mitzuschwärmen, sei der song, wie er wolle; Marias liebevolle Worte, ihr sehnsüchtig aufblühender Blick riß breite Breschen in meine Ästhetik. Wohl gab es einiges Schöne, einiges wenige auserlesen Schöne, das mir über jeden Streit und Zweifel erhaben schien, obenan Mozart, aber wo war die Grenze? Hatten wir Kenner und Kritiker nicht alle als Jünglinge Kunstwerke und Künstler glühend geliebt, die uns heute zweifelhaft und fatal erschienen? War es uns nicht mit Liszt, mit Wagner, vielen sogar mit Beethoven so gegangen? War nicht Marias blühende Kinderrührung über den song aus Amerika ein ebenso reines, schönes, über jeden Zweifel erhabenes Kunsterlebnis wie die Ergriffenheit irgendeines Studienrats überden Tristan oder die Ekstase eines Dirigenten bei der Neunten Symphonie? Und stimmte das nicht merkwürdig gut zu den Ansichten des Herrn Pablo und gab ihm recht?
Diesen Pablo, den Schönen, schien auch Maria sehr zu lieben! »Er ist ein schöner Mensch«, sagte ich, »auch mir gefällt er sehr. Aber sag mir, Maria, wie kannst du daneben auch noch mich liebhaben, einen langweiligen alten Kerl, der nicht hübsch ist und schon graue Haare bekommt und kein Saxophon blasen und keine englischen Liebeslieder singen kann?«
»Rede nicht so häßlich!« schalt sie. »Es ist doch ganz natürlich. Auch du gefällst mir, auch du hast etwas Hübsches, Liebes und Besonderes, du darfst nicht anders sein, als du bist. Man soll über diese Sachen nicht reden und Rechenschaft verlangen. Schau, wenn du mir den Hals oder das Ohr küßt, dann spüre ich, daß du mich gern hast, daß ich dir gefalle; du kannst so auf eine Art küssen, ein bißchen wie schüchtern, und das sagt zu mir: er hat dich gern, er ist dir dafür dankbar, daß du hübsch bist. Das habe ich sehr, sehr gern. Und dann wieder bei einem andern Mann habe ich gerade das Gegenteil gern, daß er sich nichts aus mir zu machen scheint und mich so küßt, als sei es eine Gnade von ihm.«
Wieder schliefen wir ein. Wieder erwachte ich, ohne aufgehört zu haben, sie mit den Armen zu umschlingen, meine schöne, schöne Blume.
Und wunderlich! – beständig blieb die schöne Blume dennoch das Geschenk, das mir Hermine gemacht hatte! Beständig stand jene hinter ihr, war maskenhaft von ihr umschlossen! Und zwischenein plötzlich dachte ich an Erika, an meine ferne böse Geliebte, an meine arme Freundin. Sie war kaum weniger hübsch als Maria, wenn auch nicht so blühend und erlöst, und an kleinen genialen Liebeskünsten ärmer, und sie stand eine Weile als Bild vor mir, deutlich und schmerzlich, geliebt und tief in mein Schicksal verwoben, und sank wieder dahin, in Schlaf, in Vergessenheit, in halb betrauerte Ferne.
Und so stiegen viele Bilder meines Lebens in dieser schönen, zärtlichen Nacht vor mir auf, in der ich so lange leer und arm und bilderlos gelebt hatte. Jetzt, vom Eros zauberhaft erschlossen, sprang die Quelle der Bilder tief und reich, und für Augenblicke stand das Herz mir still vor Entzücken und vor Trauer darüber,wie reich der Bildersaal meines Lebens, wie voll hoher ewiger Sterne und Sternbilder die Seele des armen Steppenwolfes gewesen sei. Es schauten Kindheit und Mutter zart und verklärt wie ein fernes, unendlich blau entrücktes Stück Gebirge herüber, es klang ehern und klar der Chor meiner Freundschaften, mit dem sagenhaften Hermann beginnend, dem Seelenbruder Herminens; duftend und unirdisch, wie feucht aus dem Wasser heraufblühende Seeblumen, schwammen die Bildnisse vieler Frauen heran, die ich geliebt, die ich begehrt und besungen, von denen ich nur wenige erreicht und zu eigen zu haben versucht hatte. Auch meine Frau erschien, mit der ich manche Jahre gelebt, die mich Kameradschaft, Konflikt, Resignation gelehrt hatte, zu der trotz aller Lebensungenüge ein tiefes Vertrauen in mir lebendig geblieben war bis zu dem Tage, da sie mich, irr und krank geworden, in plötzlicher Flucht und wilder Auflehnung verließ – und ich erkannte,
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