Der Steppenwolf
einem Nebenzimmer dessen neueste Feierabendarbeit, einen Radioapparat. Da saß der fleißige junge Mensch an seinen Abenden und stocherte eine solche Maschine zusammen, hingerissen von der Idee der Drahtlosigkeit, anbetend auf frommen Knien vor dem Gott der Technik, welcher es fertiggebracht hat, nach Jahrtausenden Dinge zu entdecken und höchst unvollkommen darzustellen, welche jeder Denker schon immer gewußt und klüger benutzt hat. Wir sprachen darüber, denn die Tante neigt ein klein wenig zur Frömmigkeit, und religiöse Gespräche sind ihr nicht unlieb. Ich sagte ihr, die Allgegenwart aller Kräfte und Taten sei den alten Indern sehr wohl bekannt gewesen und die Technik habe lediglich ein kleines Stück dieser Tatsache dadurch ins allgemeine Bewußtsein gebracht, daß sie dafür, nämlich für die Tonwellen, einen vorerst noch grauenhaft unvollkommenen Empfänger und Sender konstruiert habe. Die Hauptsache jener alten Erkenntnis, die Unwirklichkeit der Zeit, sei bisher von der Technik noch nicht bemerkt worden, schließlich werde aber natürlich auch sie «entdeckt» werden und den geschäftigen Ingenieuren in die Finger geraten. Man werde, vielleicht schon sehr bald, entdecken, daß nicht nur gegenwärtige, augenblickliche Bilder und Geschehnisse uns beständig umfluten, so, wie die Musik aus Paris und Berlin jetzt in Frankfurt oder Zürich hörbar gemacht wird, sondern daß alles je Geschehene ganz ebenso registriert und vorhanden sei und daß wir wohl eines Tages, mit oder ohne Draht, mit oder ohne störende Nebengeräusche, den König Salomo und den Walther von der Vogelweide werden sprechen hören. Und daß dies alles, ebenso wie heute die Anfänge des Radios, den Menschen nur dazu dienen werde, von sich und ihrem Ziele weg zu fliehen und sich mit einem immer dichteren Netz von Zerstreuung und nutzlosem Beschäftigtsein zu umgeben. Aber ich sagte alle diese mir geläufigen Dinge nicht mit dem gewohnten Ton von Erbitterung und Hohn gegen die Zeit und gegen die Technik, sondern scherzhaft und spielend, und die Tante lächelte, und wir saßen wohl eine Stunde beisammen, tranken Tee und waren zufrieden.
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Auf Dienstag abend hatte ich das schöne, merkwürdige Mädchen aus dem Schwarzen Adler eingeladen, und die Zeit bis dahin herumzubringen, machte mir nicht wenig Mühe. Und als endlich der Dienstag gekommen war, war mir die Wichtigkeit meiner Beziehung zu dem unbekannten Mädchen bis zum Erschrecken klargeworden. Ich dachte nur an sie, ich erwartete alles von ihr, ich war bereit, ihr alles zu opfern und zu Füßen zu legen, ohne doch im mindesten in sie verliebt zu sein. Ich brauchte mir nur vorzustellen, sie würde unsere Verabredung brechen oder vergessen können, dann sah ich deutlich, wie es mit mir stand; dann wäre die Welt wieder leer, wäre ein Tag so grau und wertlos wie der andre, wäre um mich her wieder die ganze grauenvolle Stille und Erstorbenheit gewesen und kein Ausgang aus dieser schweigsamen Hölle als das Rasiermesser. Und das Rasiermesser war mir in diesen paar Tagen um nichts lieber geworden, es hatte nichts von seinen Schrecken verloren. Dies eben war ja das Häßliche: ich hatte ein tiefe, herzerdrückende Angst vor dem Schnitt durch meine Kehle, ich fürchtete mich vor dem Sterben mit ebenso wilder, zäher, sich wehrender
und bäumender Kraft, als wenn ich der gesundeste Mensch und mein Leben ein Paradies gewesen wäre. Ich erkannte meinen Zustand mit voller, rücksichtsloser Deutlichkeit und erkannte, daß die unerträgliche Spannung zwischen Nichtlebenkönnen und Nichtsterbcnkönnen es war, die mir die Unbekannte, die kleine hübsche Tänzerin aus dem Schwarzen Adler, so wichtig machte. Sie war das kleine Fensterchen, das winzige lichte Loch in meiner finstcrn Angsthöhle.
Sie war die Erlösung, der Weg ins Freie. Sie mußte mich leben lehren oder sterben lehren, sie mit ihrer festen und hübschen Hand mußte mein erstarrtes Herz antasten, damit es unter der Berührung des Lebens entweder aufblühe oder in Asche zerfalle. Woher sie diese Kräfte nahm, woher die Magie ihr kam, aus welchen geheimnisvollen Gründen ihr diese tiefe Bedeutung für mich erwachsen war, darüber konnte ich nicht nachdenken, es war auch einerlei; mir lag nichts daran, dies zu wissen. An keinem Wissen, an keiner Einsicht war mir mehr das mindeste gelegen, eben damit war ich ja überfüttert, eben darin lag die schärfste und höhnendste Qual und Schmach für mich, daß ich meinen eigenen Zustand so
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