Der Steppenwolf
verkannt - —»
Der Atem ging mir aus. Tausend Dinge hätten jetzt in zehn Worten gesagt werden müssen, ich begann an der Stirn zu schwitzen.
Goethe aber sagte sehr freundlich: «Daß ich zweiundachtzig Jahre alt geworden bin, mag immerhin unverzeihlich sein. Mein Vergnügen daran war indessen geringer, als Sie denken mögen. Sie haben recht: ein großes Verlangen nach Dauer hat mich stets erfüllt, ich habe stets den Tod gefürchtet und bekämpft. Ich glaube, der Kampf gegen den Tod, das unbedingte und eigensinnige Lebenwollen ist der Antrieb, aus welchem alle hervorragenden Menschen gehandelt und gelebt haben. Daß man am Ende dennoch sterben muß, dies hingegen, mein junger Freund, habe ich mit zweiundachtzig Jahren ebenso bündig bewiesen, wie wenn ich als Schulknabe gestorben wäre. Wenn es zu meiner Rechtfertigung dienen kann, möchte ich dies noch sagen: in meiner Natur ist viel Kindliches gewesen, viel Neugierde und Spieltrieb, viel Lust zum Zeitvergeuden. Nun, und da habe ich eben etwas lange gebraucht, bis ich einsah, es müsse des Spielens einmal genug sein.»
Während er dies sagte, lächelte er ganz durchtrieben, geradezu schlingelhaft.
Seine Gestalt war größer geworden, die steife Haltung und die krampfhafte Würde im Gesicht war verschwunden. Und die Luft um uns her war jetzt ganz voll von lauter Melodien, lauter Goetheliedern, ich hörte Mozarts «Veilchen»
und Schuberts «Füllest wieder Busch und Tal» deutlich heraus. Und Goethes Gesicht war jetzt rosig und jung und lachte und glich bald dem Mozart, bald dem 84
Schubert wie ein Bruder, und der Stern auf seiner Brust bestand aus lauter Wiesenblumen, eine gelbe Primel blühte froh und feist aus seiner Mitte hervor.
Es paßte mir nicht ganz, daß der alte Mann sich meinen Fragen und Anklagen auf eine so scherzhafte Art entziehen wollte, und ich blickte ihn vorwurfsvoll an.
Da neigte er sich vor und brachte seinen Mund, den schon ganz kindlich gewordenen Mund, dicht an mein Ohr und flüsterte leise in mein Ohr hinein:
«Mein Junge, du nimmst den alten Goethe viel zu ernst. Alte Leute, die schon gestorben sind, muß man nicht ernst nehmen, man tut ihnen sonst unrecht. Wir Unsterblichen lieben das Ernstnehmen nicht, wir lieben den Spaß. Der Ernst, mein Junge, ist eine Angelegenheit der Zeit; er entsteht, soviel will ich dir verraten, aus einer Oberschätzung der Zeit. Auch ich habe den Wert der Zeit einst überschätzt, darum wollte ich hundert Jahre alt werden. In der Ewigkeit aber, siehst du, gibt es keine Zeit; die Ewigkeit ist bloß ein Augenblick, gerade lange genug für einen Spaß.»
In der Tat war kein ernstes Wort mehr mit dem Mann zu reden, er tänzelte vergnügt und gelenkig auf und nieder und ließ die Primel aus seinem Stern bald wie eine Rakete herausschießen, bald klein werden und verschwinden. Während er mit seinen Tanzschritten und Figuren glänzte, mußte ich denken, daß dieser Mann es wenigstens nicht versäumt habe, tanzen zu lernen. Er konnte es wundervoll. Da fiel der Skorpion mir wieder ein, oder vielmehr Molly, und ich rief Goethe zu: «Sagen Sie, ist Molly nicht da?»
Goethe lachte laut. Er ging zu seinem Tisch, schloß ein Schubfach auf, nahm eine kostbare lederne oder samtene Dose heraus, öffnete sie und hielt sie mir unter die Augen. Da lag klein, tadellos und schimmernd ein winziges Frauenbein auf dem dunklen Samt, ein entzückendes Bein, im Knie ein wenig gebogen, der Fuß nach unten gestreckt, in die zierlichsten Zehen spitz auslaufend. Ich streckte die Hand aus und wollte das kleine Bein an mich nehmen, das mich ganz verliebt machte, aber sowie ich mit zwei Fingern zugreifen wollte, schien das Spielzeug sich mit einem winzigen Zuck zu bewegen, und es kam mir plötzlich der Verdacht, dies könne der Skorpion sein. Goethe schien das zu begreifen, schien sogar gerade dies gewollt und bezweckt zu haben, diese tiefe Verlegenheit, diesen zuckenden Zwiespalt von Begehren und Angst. Er hielt mir das reizende 85
Skorpiönchen ganz nahe vors Gesicht, sah mich danach verlangen, sah mich davor zurückschaudern, und dies schien ihm ein großes Vergnügen zu machen.
Während er mich mit dem holden gefährlichen Ding neckte, war er wieder ganz alt geworden, uralt, tausend Jahre alt, mit schneeweißem Haar, und sein welkes Greisengesicht lachte still und lautlos, lachte heftig in sich hinein mit einem abgründigen Greisenhumor.
Als ich erwachte, hatte ich den Traum vergessen, erst später fiel er mir wieder ein.
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