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Der Steppenwolf

Der Steppenwolf

Titel: Der Steppenwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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sie das sagte! In den Augen kühl und hell schwamm wissende Trauer, diese Augen schienen schon alles irgend erdenkliche Leid gelitten und ja dazu gesagt zu haben. Der Mund sprach schwer und wie behindert, etwa so, wie man spricht, wenn einem großer Frost das Gesicht erstarrt hat; aber zwischen den Lippen, in den Mundwinkeln, im Spiel der nur selten sichtbar werdenden Zungenspitze floß, im Widerspruch zu 95
    Blick und Stimme, lauter süße spielende Sinnlichkeit, inniges Lustverlangen. In die stille glatte Stirn hing eine kurze Locke herab, von dort aus, von dieser Stirnecke mit der Locke her, strömte von Zeit zu Zeit wie lebendiger Atem jene Welle von Knabenähnlichkeit, von hermaphroditischer Magie. Angstvoll hörte ich ihr zu, und doch wie betäubt, wie nur halb anwesend.
    «Du hast mich gern», fuhr sie fort, «aus dem Grunde, den ich dir schon gesagt habe; ich habe deine Einsamkeit durchbrochen, ich habe dich gerade vor dem Tor der Hölle aufgefangen und wieder aufgeweckt. Aber ich will mehr von dir, viel mehr. Ich will dich in mich verliebt machen. Nein, widersprich mir nicht, laß mich reden! Du hast mich sehr gern, das spüre ich, und du bist mir dankbar, aber in mich verliebt bist du nicht. Ich will machen, daß du es wirst, das gehört zu meinem Beruf; ich lebe ja davon, daß ich Männer in mich verliebt machen kann.
    Aber paß gut auf, ich tue das nicht darum, weil ich gerade dich so entzückend fände. Ich bin nicht in dich verliebt, Harry, so wenig, wie du in mich. Aber ich brauche dich, wie du mich brauchst. Du brauchst mich jetzt, im Augenblick, weil du verzweifelt bist und einen Stoß nötig hast, der dich ins Wasser wirft und dich wieder lebendig macht. Du brauchst mich, um tanzen zu lernen, lachen zu lernen, leben zu lernen. Ich aber brauche dich, nicht heute, später, auch zu etwas sehr Wichtigem und Schönem. Ich werde dir, wenn du in mich verliebt sein wirst, meinen letzten Befehl geben, und du wirst gehorchen, und das wird für dich und mich gut sein.»
    Sie hob eine von den braunvioletten grüngeäderten Orchideen ein wenig im Glase, beugte ihr Gesicht einen Augenblick darüber und starrte die Blume an.
    «Du wirst es nicht leicht haben, aber du wirst es tun. Du wirst meinen Befehl erfüllen und wirst mich töten. Das ist es. Frage nicht mehr!»
    Mit dem Blick noch bei der Orchidee, verstummte sie, ihr Gesicht entspannte sich, wie eine aufgehende Blumenknospe entrollte es sich aus Druck und Spannung, und plötzlich stand ein entzückendes Lächeln auf ihren Lippen, während die Augen noch einen Augenblick starr und gebannt blieben. Und jetzt schüttelte sie den Kopf mit der kleinen Bubenlocke, trank einen Schluck Wasser, sah plötzlich wieder, daß wir am Essen waren und fiel mit freudigem Appetit über die Speisen her.

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    Ich hatte Wort für Wort ihrer unheiml ichen Rede deutlich gehört, hatte sogar ihren «letzten Befehl» erraten, noch ehe sie ihn aussprach, und war über das «Du
    •wirst mich töten» nicht mehr erschrocken. Alles, was sie sagte, klang mir überzeugend und schicksalhaft, ich nahm es an und wehrte mich nicht dagegen, und doch war alles, trotz dem grauenhaften Ernst, mit dem sie gesprochen hatte, für mich ohne volle Wirklichkeit und Ernsthaftigkeit. Ein Teil meiner Seele sog ihre Worte auf und glaubte ihnen, ein andrer Teil meiner Seele nickte begütigend und nahm zur Kenntnis, daß also doch auch diese so kluge, gesunde und sichere Hermine ihre Phantasien und Dämmerzustände habe. Kaum war ihr letztes Wort gesprochen, so überzog eine Schicht von Unwirklichkeit und Unwirksamkeit die ganze Szene.
    Immerhin konnte ich nicht mit derselben seiltänzerischen Leichtigkeit wie Hermine den Sprung ins Wahrscheinliche und Wirkliche zurück tun.
    «Also ich werde dich einmal töten?» fragte ich, leise nachträumend, während sie schon wieder lachte und voll Eifer ihr Geflügel zerschnitt.
    «Natürlich», nickte sie obenhin, «genug davon, es ist Essenszeit. Harry, sei nett und bestelle mir noch ein wenig grünen Salat! Hast du denn keinen Appetit?
    Ich glaube, du mußt alles erst lernen, was sich bei andern Menschen von selber versteht, sogar die Freude am Essen. Also sieh, Kleiner, dies hier ist ein Entenbeinchen, und wenn man das helle hübsche Fleisch vom Knochen löst, dann ist das ein Fest, und es muß einem dabei gerade so appetitlich und spannend und dankbar ums Herz sein, wie einem Verliebten, wenn er seinem Mädchen zum erstenmal aus der Jacke hilft. Hast du

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