Der Stern von Yucatan
führte ihn fortan als Deserteur, doch Thomas wusste, dass seine Flucht ihm das Leben gerettet hatte. Er hätte den Verstand verloren, wenn er zurückgekehrt wäre. Eine Weile hatte er sich in San Francisco versteckt. Ginny war zu ihm gekommen, hatte ihm Liebe geschenkt und ihm seinen Verstand zurückgegeben. Bitterkeit und Hass waren allmählich schwächer geworden, bis er fast wieder normal empfand und die erlebten Gräuel zumindest verdrängen konnte.
Doch er fühlte eine moralische Verpflichtung, andere vor dem zu schützen, was er erlebt hatte. Anstatt nach Kanada zu fliehen, wie es viele vor und nach ihm taten, machte er es sich zur Aufgabe, für die Beendigung des Krieges zu arbeiten. Er trat einer Extremistengruppe bei und befreundete sich mit ihrem Anführer, José Delgado, dessen Familie in Mexiko lebte. Da Thomas nach vier Jahren Studium recht gut Spanisch sprach, bestand José darauf, dass sie seine Sprache benutzten, wenn sie über ihre Pläne redeten. Was als Vorsichtsmaßnahme begann, endete als Notwendigkeit.
“Thomas?”
Beim Klang seines Namens drehte er sich nur zögernd um.
“Wieder der Traum?”, fragte Azucena halblaut.
Er nickte nur, ohne zu erklären, dass seine Gedanken Ginny und der Tochter gegolten hatten, die er nicht mehr kannte.
Sie schlüpfte aus dem Bett und kam zu ihm, die nackten Füße schritten lautlos über den Holzboden. “Komm wieder ins Bett”, drängte sie auf Spanisch und schlang ihm die Arme um die Taille.
“Bald”, versprach er und mochte seine Erinnerungen noch nicht loslassen.
“Komm!”, lockte sie wieder und legte ihm die gespreizten Finger auf die Brust. “Ich werde dir helfen, deine schlimmen Träume zu vergessen.”
“Azucena …”
Als Antwort küsste sie ihm den Nacken und presste ihre schweren Brüste an ihn.
Er brauchte sie jetzt so dringend wie immer. Trotz des fortgeschrittenen Stadiums ihrer Schwangerschaft küsste er sie ohne Zurückhaltung. Und sie reagierte mit einer Leidenschaft, die seine eigene anstachelte. Als er sich zurückziehen wollte, zog sie ihn zum Bett und presste ihn an sich.
Azucena verdiente einen besseren Mann, als er je sein konnte. Sie verdiente jemand, der sie vollkommen um ihrer selbst willen liebte. Jemand, der dem Kind, das in ihr wuchs, seinen Namen gab. Es beschämte ihn, dass sie nur zwei Jahre älter war als seine Tochter. Doch das hielt ihn nicht davon ab, zwischen ihren Schenkeln einzudringen. Im Augenblick des Höhepunktes stieß er Ginnys Namen aus. Es war nicht das erste Mal, und es würde nicht das letzte Mal sein.
Lorraine hatte den Brief so oft gelesen, sie konnte ihn auswendig. Sie übernachtete nicht mehr in ihrer Wohnung, sondern ausschließlich im Haus ihrer Mutter. Während sie dort war, schlief sie jedoch sehr wenig. Erschöpft und zornig saß sie Nacht für Nacht im dunklen Wohnzimmer und versuchte in dem, was sie erfahren hatte, einen Sinn zu entdecken.
Sie war sich vage bewusst, dass seit jenem Nachmittag in Dennis Goodwins Büro zwei Wochen vergangen waren. Der Morgen dämmerte, Licht strömte in den Raum, und sie hatte wieder nicht geschlafen. Sie schlummerte höchstens ein, zwei Stunden. Der tiefe, zufriedene Schlaf derer, die mit sich und der Welt im Einklang waren, schien für sie auf ewig verloren.
Die Mutter, die sie gekannt und geliebt hatte, existierte nicht mehr. Virginia – oder die Person, die sie zu sein vorgegeben hatte – war für sie nicht mehr erreichbar. Was sie getan hatte, überstieg Lorraines Fassungsvermögen. Sie kam sich vor, als sei das Fundament ihrer Welt zusammengebrochen.
Obwohl sie jedes Wort des Briefes auswendig kannte, holte sie ihn noch einmal hervor und las ihn.
Liebste Ginny!
Heute ist der einundzwanzigste Geburtstag unserer Tochter. Wo sind nur all die Jahre hin? Es kommt mir wie gestern vor, als ich Raine auf den Knien geschaukelt und sie in den Schlaf gesungen habe. Es schmerzt mich, zu erkennen, wie viel ihres Lebens ich versäumt habe.
Ich weiß, du willst das nicht hören, aber ich habe nie aufgehört, dich zu lieben und zu brauchen. Ich wünschte, das Leben hätte anders für uns verlaufen können. Worum ich dich jetzt bitte, ist, dass du Raine die Wahrheit über mich mitteilst
.
Die Entscheidung, ihr zu sagen, ich sei tot, haben wir gemeinsam getroffen. Zu der Zeit schien es das Richtige zu sein, aber ich habe es jeden Tag bereut. Du weißt das. Und du weißt auch, dass ich mein Wort halte. Ich habe getan, was du wolltest und mich nicht in
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