Der Sternenwald
Flusskraut und dicken, in ihren Schalen gebackenen Wasserkäfern bestehenden Abendessen stiegen sie zu Plattformen weit oben in den Bäumen am See empor. Reynald und Estarra sahen sich die Vorstellung einiger geschickter Baumtänzer an: Die geschmeidigen Akrobaten liefen, tanzten und sprangen über die flexiblen Äste, benutzten gewölbte Zweige und Blattwedel wie Sprungbretter und flogen durch die Luft. Sie drehten sich um die eigene Achse und machten Saltos, streckten die Hände nach dünnen Ästen aus und schwangen dort in einer gut einstudierten Choreographie hin und her. Ein gleichzeitiger Sprung aller Tänzer beendete die Darbietung. In einem weiten Bogen fielen sie dem Spiegelsee entgegen und tauchten kopfüber hinein.
Nach dem Tanz führte Reynald Gespräche mit den Kokonbewohnern, und Estarra nahm die Einladung an, zusammen mit einigen Mädchen im See zu planschen. Sie schwamm sehr gern – leider bekam sie nur wenige Male im Jahr Gelegenheit dazu.
Während Estarra im Spiegelsee Wasser trat und das Gefühl des Schwebens genoss, blickte sie zum offenen Himmel hoch. Im Bereich ihrer eigenen Siedlung war das Blätterdach dicht und lückenlos; man musste zu den Wipfeln hinaufklettern, um des Nachts die Sterne zu sehen. Als sie nun schwamm, empfand sie den Anblick des Himmels als überwältigend. Zahllose Lichter zeigten sich dort in der Unendlichkeit des Alls, Welten voller Menschen und Möglichkeiten.
Als sie nass und erfrischt zu den hell erleuchteten Wurmkokons zurückkehrte, sah sie ihren Bruder dort im Gespräch mit einer jungen Priesterin namens Almari. Ihre Augen zeigten Intelligenz und Neugier. Als Akolyth hatte Almari Jahre damit verbracht, den Bäumen vorzusingen und der Datenbank des Weltwaldes weiteres musikalisches Wissen hinzuzufügen. Wie alle grünen Priester war sie haarlos und die Tätowierungen in ihrem Gesicht wiesen auf ihre Leistungen hin.
Reynald war freundlich und liebenswürdig, hielt sich alle Möglichkeiten offen. »Du bist schön und klug, Almari. Das kann niemand bestreiten. Zweifellos wärst du eine gute Ehefrau.«
Estarra kannte das Gespräch – sie hatte es während dieser Rundreise schon mehrmals gehört.
Almari unterbrach Reynald und sprach schnell, bevor er ihr Angebot zurückweisen konnte. »Wäre es in Anbetracht dieser schweren Zeiten nicht angemessen, dass eine grüne Priesterin zur nächsten Mutter von Theroc wird?«
Reynald berührte die weiche grüne Haut an Almaris Handgelenk. »Dem kann ich kaum widersprechen, aber ich möchte nichts übereilen.«
Almari bemerkte Estarra, stand auf und ging davon, wirkte dabei ein wenig verlegen.
Estarra lächelte schelmisch und versetzte ihrem Bruder einen spielerischen Schlag an die Schulter. »Sie ist hübsch.«
»Und sie war die dritte junge Frau heute Abend.«
»Besser eine zu große Auswahl als gar keine«, sagte Estarra.
Reynald stöhnte. »Vielleicht sollte ich bald eine Entscheidung treffen – dann habe ich es wenigstens hinter mir.«
»Armer, armer Reynald.«
Er gab seiner Schwester seinerseits einen spielerischen Klaps. »Zum Glück bin ich nicht der ildiranische Erstdesignierte. Er muss tausende von Frauen lieben und so viele Kinder wie möglich zeugen.«
»Oh, die schreckliche Verantwortung, die man als Oberhaupt eines Volkes tragen muss.« Estarra schüttelte das nasse Haar, um ihren Bruder zu bespritzen. »Ich bin nur das vierte Kind, deshalb besteht meine einzige Sorge darin, wann ich wieder schwimmen kann. Wie wär’s mit jetzt?«
Sie lachte und lief fort. Reynald sah ihr neidisch nach.
4 ERSTDESIGNIERTER JORA’H
Als ältester adliger Sohn des Weisen Imperators verbrachte der Erstdesignierte Jora’h seine Tage damit, der Pflicht zu genügen. Fruchtbare Frauen aus allen ildiranischen Geschlechtern bewarben sich um das Paarungsprivileg, so viele, dass Jora’h sie unmöglich alle empfangen konnte.
Die nächste Partnerin des Erstdesignierten hieß Sai’f. Die gertenschlanke und aufgeweckte Ildiranerin stammte aus dem Wissenschaftler-Geschlecht, galt als Expertin für Biologie und Genetik. Sie interessierte sich für Botanik und entwickelte neue Getreidearten für mehrere Splitter-Kolonien.
Sie besuchte Jora’h in seiner Kontemplationskammer im Prismapalast, wo permanentes Tageslicht durch bunte Kristallflächen fiel. Ihre Stirn war hoch, der Kopf groß, der Blick ihrer Augen aufmerksam – sie schien sich jedes Detail für eine spätere Untersuchung einzuprägen.
Jora’h stand vor ihr, hoch
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