Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war
Europa bringen sollte.
Avernus hatte einen Vorsprung von etwa sechsundzwanzig Stunden, aber die Luís Inácio da Silva war mit dem neuen, leistungsstarken Fusionsantrieb ausgestattet und deshalb in der Lage, einen direkten Kurs zwischen den Ringen aus geladenen Teilchen hindurch zu nehmen, die den Jupiter umgaben, anstatt wie bei der üblichen treibstoffsparenden Methode der Orbitalbahn zu folgen und sich auf die Schwerkraft zu verlassen. Nur sechs Stunden, nachdem es den Orbit um Kallisto verlassen hatte, tauchte vor dem schnellen, kleinen Schiff bereits Europa auf.
Wie Kallisto war auch Europa eine Kugel aus Silikatgestein, die von einer Schicht Wassereis eingehüllt war, aber die Gezeitenkräfte, die von Jupiter und seinem größten Mond Ganymed ausgingen, erhitzten sein Inneres. Unter der Eiskruste befand sich deshalb ein weltumspannender Ozean, der etwa zwanzig Kilometer tief war und von Hydrothermalquellen
und Riftzonen, wo das Wasser in die Lithosphäre hinabgezogen wurde, flüssig gehalten wurde. Meteoriteneinschläge, innere Spannungen und Ströme warmen Wassers, die von besonders aktiven und langlebigen Thermalquellen ausgestoßen wurden, brachen die Eisdecke auf der Oberfläche von Europa immer wieder auf. Flüssiges Wasser stieg durch die Risse auf und gefror wieder, wodurch lange Verwerfungen entstanden. Die von Furchen durchzogene Oberfläche des Mondes war ein Palimpsest der Überflutungen, die sogleich wieder gefroren waren. Sein gelblicher Schimmer und das zarte Krakelee seiner Oberfläche erinnerten Sri an eine alte Billardkugel aus Elfenbein, die sie einmal in einem Museum für Umweltverbrechen in Quito gesehen hatte, oder an alte Karten vom Mars, auf denen ein phantasievolles Netz von Kanälen zu sehen gewesen war.
Die Luís Inácio da Silva schwenkte nur drei Stunden, nachdem Avernus’ Schlepper gelandet war, in den Orbit um Europa ein, aber es gab eine längere Verzögerung, bis der Flugplan ihres Shuttles von der Verkehrsleitzentrale auf Europa genehmigt wurde. Sri ließ Avernus gerne einen Vorsprung. Sie wollte nicht, dass die Dinge in eine Verfolgungsjagd ausarteten. Stattdessen wollte sie herausfinden, wo die Genzauberin haltmachte, und dann Kontakt mit ihr aufnehmen – ein erster Annäherungsversuch, der hoffentlich den Auftakt zu einer Reihe fruchtbarer Gespräche bilden würde. Sie hatte sich bei Oscar Finnegan Ramos die Genehmigung für diese Mission eingeholt, und er hatte einen alten Freund kontaktiert, der in Minos lebte, der einzigen größeren Siedlung auf Europa.
Nach ihren bescheidenen Anfängen als kleine und entlegene Wissenschaftsbasis war die Stadt Minos in die Tiefe expandiert und hatte sich in das Eis eingegraben, um dem Strahlungsgürtel des Jupiter zu entgehen. Dieser schickte genügend
Strahlung auf die Oberfläche von Europa hinab, dass sie einen ungeschützten Menschen innerhalb von zwei oder drei Tagen umbringen würde. An der Stelle, wo sich Minos befand, war die Kruste nur etwa dreißig Kilometer dick und von Strömen warmen Wassers ausgehöhlt, die von einer Reihe Hydrothermalquellen entlang einer Bruchlinie ausgestoßen wurden. Die Stadt hatte Schächte in das Eis gegraben, die bis zu seinem unteren Rand und in den darunter liegenden Ozean reichten.
Oscar Finnegan Ramos’ Freund, Tymon Simonov, war ein über hundertsechzig Jahre alter Genzauberer – einer der Pioniere, die noch die große Flucht vom Mond miterlebt hatten. Sri und Alder brauchten länger als einen Tag, um zu ihm zu gelangen. Sie fuhren nacheinander mit einer Reihe von Fahrstühlen unter die Oberfläche hinab; eine vertikale Reise, die sie auf der Erde bis zum Rand der Diskontinuität gebracht hätte, wo die Kontinentalplatten auf der geschmolzenen Lava schwammen. Auf Europa brachte es sie in eine Schlucht, die in die Unterseite des Eises geschnitten und mit Luft gefüllt war. Auf beiden Seiten der Schlucht waren riesige Biomkammern ins Eis getrieben worden, und an ihren Wänden hingen etagenartig Plattformen, die mit Alpenwiesen, Zwergkiefern und Tannen bepflanzt waren. Diese ragten über eine silbrige, halblebendige Membran hinaus, die im Rhythmus der heftigen Strömungen darunter schwankte und wogte. Trotz der aufwendigen Dichtungen an den Rändern der Membran stieg von dem anoxischen Ozean der schwache Geruch von Schwefelwasserstoff auf, der an faulige Eier erinnerte. Und obwohl Ketten von Höhensonnen Helligkeit verströmten und viele der Eisflächen in hellen, fröhlichen Farben
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