Der stille Krieg - McAuley, P: Der stille Krieg - The quiet war
Gyroskopen vollkommen sicher war.
Vielleicht spürte Alder ihre leichte Beunruhigung, denn er drückte ihre Hand und sagte: »Ich glaube, diese Lichter gehören zu irgendeiner Farm.«
Hinter ihm sagte Tymon: »Du hast scharfe Augen. Genau das ist es.«
Die Ketten der kleinen Lichter teilten sich voneinander, als die Gondel näher kam, und verwandelten sich in lange Lampenreihen, die von am Eis befestigten Kabeln herabhingen. Jede der Lampen beleuchtete einen etwa dreißig Meter langen verstärkten Rahmen, von dem lange Bänder herabhingen, die in der trägen Strömung langsam hin und her schwankten.
»Seetang«, sagte Alder.
»Sie haben die Quarantäneabsperrung durchbrochen«, sagte Sri.
Sie spürte ein mulmiges Gefühl in sich aufsteigen und fragte sich, warum sie davon noch nichts erfahren hatte. Wie hatten die Bewohner Europas das geheim halten können? Was verbargen sie sonst noch in ihrem riesigen Keller? Und wie stand es mit den anderen Außenweltlern? Was versteckten sie in den Spalten und Tunneln ihrer unzähligen kleinen und großen Monde, in der Umlaufbahn der Gasriesen oder auf einsamen Asteroiden?
»Die Quarantäne wurde in dem Moment durchbrochen, als der erste Aquanaut seinen Schacht verließ«, sagte Tymon. »Und das hat auch nicht so viel zu bedeuten, wie wir früher einmal gedacht haben, da die eingeborenen Lebensformen mehr oder weniger mit denen der Erde verwandt sind. Außerdem braucht dieser Seetang Licht zum Wachsen. Und abgesehen von einem vorübergehenden Leuchten, wenn irgendwo an einer Bruchlinie Lava aufsteigt, ist das hier der einzige Ort im gesamten Ozean, wo es Licht gibt.«
Die Gondel sank tiefer und fuhr unter den Gestellen hindurch. Es gab Hunderte von ihnen, die sich so weit erstreckten, wie Sri blicken konnte. Seetang hing von Tauen herab, die am Rahmen der Gestelle befestigt waren, hauchdünne Bänder, die im grellen Flutlicht der Gondel violett, purpurrot oder rötlich braun glänzten wie getrocknetes Blut. Ausgewachsene
Exemplare waren hundert Meter lang. Die langen Reihen der Gestelle mit dem herabhängenden Seetang wogten sanft in der Strömung wie die Haut eines großen Tieres, die sich unter dessen Atemzügen hob und senkte. Der Tang gab einen Dunst aus molekularem Schwefel ab, das Abfallprodukt der Kohlenstoffbindung.
Obwohl der Strom aufsteigenden Wassers reich an Nährstoffen war, gab es so weit oben in der Wassersäule nur wenig Energie, welche die eingeborenen Lebensformen nutzen konnten. Der Schwefelwasserstoff, der von den Hydrothermalquellen ausgestoßen wurde und die Grundlage für die Oxidationsprozesse in den Bakterienkolonien in ihrer Umgebung bildete, wurde durch die Wasserchemie sehr rasch in unbrauchbare Sulfate umgewandelt. Die Riftzonen waren seltene und reiche Oasen des Lebens. Überall sonst in den weiten, lichtlosen Wüsten des Ozeans von Europa überlebten nur sparsame chemotrophe Organismen, indem sie aus den spärlich vorhandenen Molekülen von Metalloxiden Wasserstoff abspalteten. Aber genau wie die Grünpflanzen auf der Erde, die die Energie des Lichtes nutzten, um Wasserstoffionen und Elektronen aus dem Wasser auf Kohlendioxidmoleküle zu übertragen und auf diese Weise Traubenzucker zu produzieren, mit Sauerstoff als Nebenprodukt, reduzierte Tymons Seetang mit Hilfe von Licht anorganische Schwefel- und Eisenverbindungen. Er nahm Kohlendioxid und Nährstoffe aus dem Wasser auf und wuchs mit enormer Geschwindigkeit; jeder Wedel wurde pro Tag zwei bis drei Meter länger. Und die Energie für die Lampen ließ sich problemlos aus der ständigen Strömung oder den Temperaturdifferenzen gewinnen.
Glänzende Roboter mit gelenkigen Armen und am Heck montierten Gebläsemotoren bewegten sich durch die Reihen, schnitten lange Stränge des Seetangs ab und brachten
ihre Ernte zu einer fernen Verarbeitungsstation. Tymon steuerte die Gondel zum Außenrand der gewaltigen Anlage, wo Bauroboter neue Gestelle herstellten, wie Bienen, die in einem Bienenstock beschäftigt waren. Die Farm nahm beinahe elf Quadratkilometer ein, umfasste im Augenblick etwa achtzehntausend Gestelle und wuchs mit einer Geschwindigkeit von zwanzig neuen Gestellen pro Tag.
Es war ein Phasenwechsel, dachte Sri. Als würde man einen Impfkristall in einen Becher mit übersättigter Lösung geben. War sie in einem Moment noch flüssig, hatte sie sich im nächsten bereits in ein festes Kristallgitter verwandelt. Vor ihrem inneren Auge sah sie Tausende von Quadratkilometern, die mit
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