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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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eine nicht ungefährliche Diskussion einließ. Denn auch die Volkspartei würde die Lage der Bauern nicht verbessern können. Deshalb wechselte er rasch das Thema und wandte sich wieder der Versammlung zu: Er wisse, wie hier auf dem Lande über den Schutz, den das ungeborene Leben genieße, gedacht werde. Aber wie dächten die Sozialisten darüber? Die Sozialisten hätten die ersten drei Monate des Menschenlebens für vogelfrei erklärt, die Volkspartei aber wolle das Menschenleben in jedem Alter und jeder Form unter Schutz stellen.
    »Niemand wird gezwungen!« sagte der Mann laut. Diesmal beachtete der Landesrat den Zwischenruf jedoch nicht. »Der Landeshauptmann«, fuhr er fort, »hat mich beauftragt, Ihnen seine Grüße zu übermitteln. Er bittet Sie um Ihre Stimme bei den Wahlen.« Zufrieden schichtete er die Notizzettel und wartete auf den Applaus. Neben ihm stand ein junger Fotograf, der jeden, dem der Landesrat die Hand schüttelte, mit einer Polaroidkamera aufnahm. Als Ascher von der Küche aus mit seiner Frau telefonierte, sah er den Landesrat in eine Limousine steigen und das Fenster herunterkurbeln. Sein Chauffeur drehte vorsichtig zwischen den abgestellten Traktoren um und verschwand rasch zur Bundesstraße.
     
    Nachdem er gegessen hatte, machte er sich auf den Rückweg. Die Tür des Feuerwehrrüsthauses war mit Plakaten und halbabgerissenen, bunten Plakatresten beklebt. Über der Tür befand sich ein Fenster mit geöffneten Balken. Ein Vogel verschwand gerade in der Dunkelheit des Rüstturmes. Ein Stück weiter reiften auf dem Mauersims eines Bauernhauses Tomaten. Eine Katze saß in der Nische des Kellerfensters darunter, neben ihr lag eine rostige Zange. Das schien Ascher alles so unveränderbar, daß es ihn rührte. Dort, wo der Bauer mit seiner Frau und seinem Sohn den Mais geschnitten hatte, waren schon kegelförmige Maishaufen aufgeschüttet. Er ging bis zum Haus der Witwe und setzte sich in die Stube. Das Haus mit den Wohnräumen war über den Stall gebaut. Durch das Fenster sah er auf eine Ribiselkultur, die die Abhänge hinunter angelegt war. Davor standen große Kirschbäume und ein Birnbaum, unter welchen Tische und Bänke aufgestellt waren. Die Witwe war eine sechzigjährige Frau, sie hatte ein weiches Gesicht, graublaue Augen, brünettes Haar und volle Lippen. Ascher sah ihr zu, wie sie auf dem weißen, gemauerten Herd kochte. Über dem Backrohr lagen schlafende Katzen, die Hunde kamen in das Haus gelaufen und leckten Aschers Hand. Die Frau hieß Juliane Egger. Ihr Mann war vor mehr als zehn Jahren an Staublunge gestorben. Er sei Bergmann in Tombach gewesen, sagte sie. In Tombach habe es früher ein Steinkohlenbergwerk gegeben, das vor einigen Jahren stillgelegt worden sei. Die Männer hätten auf dem Bauch liegend in den niederen Stollen gearbeitet. Nach dem Tod ihres Mannes sei sie mit drei Kindern allein gewesen, die Tochter habe später geheiratet, einer ihrer Söhne sei Bäcker, der andere helfe ihr, die Landwirtschaft zu führen. Er trank das Glas Wein aus, das die Frau vor ihn hingestellt hatte und fragte, ob sie für ihn kochen könne. Die Frau war einverstanden. Dann kaufte er ein halbes Dutzend Hühnereier, die sie für ihn in Zeitungspapier einwickelte. Unter den Gräben sah er die Fischteiche. Er dachte an die winzigen Tiere und Pflanzen in den Tümpeln, die als durchsichtige Zellen im Wasser schwebten, Blau- und Gelbalgen, Urtierchen, Süßwasserschwämme, Moostierchen und Rädertiere. Wie viele hatte er einmal durch das Mikroskop gesehen! Von den Sonnentierchen erinnerte er sich an das Strahlenbällchen, dessen Scheinfüße sich bei der geringsten Berührung zurückzogen, und an das Sonnentier Actionophrys sol, ein kugelförmiges Körperchen, das Wimperntiere und Zieralgen fraß. Er war erstaunt gewesen, durch das Mikroskop zu beobachten, wie sie die Beute mit ihren durchsichtigen Scheinfüßen umhüllten und in den Körper hineinzogen. Am Himmel sah er jetzt dünne, graue Wolken. Gegen die Berge hin wurden die Wolken zu einer weichen, in sanften Hügeln hängenden Decke, aus der zartrosa das Abendlicht schimmerte, das die Berge am Horizont zu dunkelblauen Silhouetten machte. Er ging in das Haus und legte sich im Dachzimmer auf das Bett. Das Tier unter der Holzdecke begann wieder zu scharren, er fühlte sich ihm plötzlich verbunden. Dann dachte er an die Parteiversammlung. Automatisch fiel ihm der Mann ein, der neben ihm gesessen hatte. Er war voller Glauben an das Leben

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