Der stille Ozean
über den Toten, um das Buch genauer zu sehen, aber auch aus der Nähe konnte er die Aufschrift nicht entziffern. Ferner steckten noch Kriegsauszeichnungen, darunter das Eiserne Kreuz, im Wandbehang. Jetzt bemerkte Ascher, daß eine Frau den Raum betreten hatte. Sie öffnete den Kasten und fing an, in ihm zu kramen. Gleich darauf kam eine ältere Frau, die – als sie Ascher sah – in der Tür stehen blieb. Die erste der beiden Frauen war groß, schlank und grauhaarig und trug ein gemustertes Schürzenkleid, die andere war sehr klein, voller Falten und sah wie vertrocknet aus. Sie ging jetzt schüchtern zum Kasten und übernahm die Gegenstände, die die Frau ihr in die Hand drückte: Es handelte sich um Bettwäsche, Kleider, Decken und persönliche Gegenstände.
»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« fragte die kleine Frau. Ascher setzte sich.
»Er ist statt dem Arzt gekommen«, sagte die andere Frau. »Sind Sie Tierarzt?« fragte die kleine Frau wieder. »Nein, Biologe.«
»Ach so«, sagte sie rasch. »Darf ich Ihnen ein Glas Wein bringen?«
»Nein, ich trinke nicht.«
»Ein Gläschen wenigstens.«
»Danke!«
»Nicht einmal ein Gläschen wollen Sie mit uns trinken?« Die alte Frau hatte die Gegenstände auf das Totenbett gelegt und eine Zwei-Liter-Weinflasche aus der Kredenz geholt. Ascher sagte nichts mehr und ließ sie das Glas vollschenken.
»Die Hose ist noch gut«, sagte die andere Frau. »Die Hose können wir gebrauchen. Und die Hemden sind auch noch schön.« Die Frauen zeigten keine Spur von Betroffenheit. Die jüngere der beiden schien seine Gedanken zu erraten: »Wir haben das Haus auf Leibrente genommen. Wir mußten alle in diesem Raum leben. Den Kasten durften wir nie öffnen. In dem Bett da drüben schlief ich mit meiner Mutter, im anderen schlief er. Er hat uns immer belästigt, es war ihm egal, ob es meine Mutter war oder ich. Jetzt ist er tot.«
Sie hatte eine Blechschachtel gefunden, öffnete sie einen Spalt und blickte hinein.
»Hier ist es«, sagte sie. Beide Frauen gingen hinaus und machten die Tür zu. Ascher blickte wieder den Mann an. Er bewunderte an alten Menschen, daß sie es so lange ausgehalten hatten. Wenn sie alt waren, kamen sie ihm in Sicherheit vor. Er stand auf, nahm ein Tuch, wickelte es zusammen und band ihm das Kinn hinauf. Früher war er, sobald der Tod eingetreten war, verschwunden, es war zum ersten Mal, daß er sitzen blieb. Dieser kleine, zusammengeschrumpfte, vom Leben getretene Bauer verbreitete in seinem Tod keinen Schrecken mehr. Die Stille schien aus ihm zu kommen. Ascher schüttete den Wein zurück in die Flasche. Er fühlte etwas wie Versöhnung von dem Mann ausgehen. Was kümmerten ihn seine Sünden? Was seine Schwächen? Er hatte sie mit sich genommen. Hier lag seine Hülle, die Last, die er mit sich herumgeschleppt hatte. Die Frauen kamen wieder herein und stellten die Blechschachtel in den Kasten. Sie sprachen jetzt gedämpft. »Wir werden ihn im alten Haus aufbahren. Dort stört er niemanden«, sagte die jüngere Frau. »Ich werde fragen, ob wir ihn dort aufbahren dürfen.« Die kleine Frau sagte nichts.
»Wir können nicht drei Nächte mit ihm in der Küche schlafen, und der Vorraum ist zu schmal.«
»Sehen Sie, Sie haben getrunken«, sagte die kleine Frau. »Ja«, antwortete Ascher. Er gab den Frauen die Hand und trat ins Freie. Der Wind schlug ihm klar und kalt in das Gesicht.
Am selben Abend begegneten ihm auf einem Traktoranhänger die beiden Frauen und der Mann, der ihn abgeholt hatte, mit dem Sarg. »Wohin bringen Sie ihn?« fragte Ascher. »In das alte Haus. Übermorgen fahren wir ihn für das Begräbnis wieder zurück.«
Der Traktor bog von der Straße ab, der Sarg verrutschte, und der Fahrer fluchte. Die Frauen machten ein unbeteiligtes Gesicht. Mücken flogen, vom Sonnenlicht beleuchtet wie schwebende Staubkörnchen, auf und ab. Er sah die Spuren von Traktorreifen, die sich tief in die Erde der Äcker gegraben hatten. Das Sonnenlicht kam ihm jetzt weich und müde vor. Der Wind hatte nachgelassen. Er hörte Grillen zirpen, und als er auf den Herbstwald zuging, standen die Wolken über ihm wie Feuerzungen. Er ging jetzt rasch voran. Unten in der weiten Mulde zog hinter einem Maisfeld der Nebel auf. Kinder winkten ihm aus dem großen, schwankend und langsam dahinfahrenden Schulbus zu. Wie Federn lagen die Reste von Maisstritzeln auf der Straße, die nun bergauf nach St. Ulrich führte.
Im holzgetäfelten Gastraum saßen die Bauern der Umgebung
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