Der stille Ozean
und spielten Karten. Sie blickten weiterspielend auf und schienen zu warten, was er machte. Ascher nahm hinter einem Tisch Platz. Ein Kruzifix lehnte an der Wand neben einer Speisekarte und blauen Bierreklametafeln. Jetzt erkannte er, daß auch der Mann, der bei der Parteiversammlung die Zwischenrufe gemacht hatte, im Gastraum saß. Draußen wurde es dunkel. Was ihn überraschte, war, daß ihm niemand mißtraute. In diesem Augenblick drehte sich der Mann, den er bei der Parteiversammlung gesehen hatte, zu ihm hin und sagte: »Sie kennen uns nicht, aber Sie werden gesehen, auch wenn Sie sich unbeobachtet glauben. Bilden Sie sich nicht ein, wir wüßten nicht Bescheid. Das wäre ein Fehler.« Ascher erschrak. Was wußte der Mann von ihm? Und was wollte er?
»Heute sind Sie geholt worden, weil jemand gestorben ist«, fuhr der Mann fort. »Vor ein paar Tagen waren Sie auf der Fasanenjagd … übrigens habe ich Sie bei der Versammlung der Volkspartei gesehen … alle, die neu hier sind, glauben, wir merken nicht, was sie tun … sie können allein durch den Wald gehen, und wir wissen es … über jede Wiese können sie gehen, über jeden Acker, wir werden alles erfahren.« Als der Mann Aschers überraschtes Gesicht wahrnahm, nickte er und sog an seiner Zigarette.
Am folgenden Morgen hatte Ascher einen Brief an seine Frau geschrieben und war dann in den Graben hinuntergegangen. Ein Hahn krähte in der Ferne. Als er das alte Haus betrat, stellte er fest, daß es verlassen war. Die Zimmer, in die man durch die Türöffnung sehen konnte, waren ohne Möbel. Die Fensterbalken lagen auf dem Boden. In den Hinterzimmern konnte er unter Rissen im Verputz die Strohmatten sehen. Zwei Frauen knieten in der Küche vor dem Sarg und beteten den Rosenkranz, ein Mann stand, die Kappe in der Hand, daneben. Sie schauten ihn neugierig an. Der Mann hier lag in dem aufgegebenen Haus, in dem der Bretterboden eingebrochen war. Ein Teil der ursprünglichen Tapete war noch vorhanden, sie war schwarz wie die Holztrahmen unter der Decke und wie sie mit handgemalten gelben Blumen geschmückt. Wo sie fehlten, war vergilbtes Packpapier mit Reißnägeln an die Wand geheftet. Er trat auf zerbrochenes Glas, Zeitungen lagen in den Winkeln, in einer Ecke lehnte ein Sessel auf drei Füßen. Die Toten hatten alles mit sich genommen. Es war, als seien sie mit Hab und Gut in die Vergangenheit verschwunden. Dieses endgültige Verschwinden und die Gleichgültigkeit, die zurückblieb, schien Ascher voller Würde. Im Vorraum stand ein verrosteter Eisenherd, auf dem man früher das Schweinefutter gewärmt hatte. Rohe Holzsteigen, die als Hühnerkäfige gedient hatten, lagen herum. Ein Zimmer mit einer weißgestrichenen Holzdecke war vom Tageslicht erhellt. Die Wände waren gelb und mit einem roten Muster bemalt, Spinnweben hingen in den Nischen. Hier hörte er die Geräusche von außen, vor den Fenstern wuchs Fliedergebüsch. In der Küche sah er den gemauerten, verfallenen, großen Herd, auf dem ein Kind saß. Alles, was sich Ascher über den Toten dachte, war, daß er gelebt hatte, während er noch in sein Leben verstrickt war.
Kühe waren vor das Haus gekommen, zwischen denen Ascher hindurchgehen mußte. Unter einem Baum lagen abgefallene Pflaumen, die von weitem wie ein blauer Fleck im Gras aussahen. Ascher hörte die Bienen auf ihnen summen. Gleichzeitig stellte er fest, daß ihm jemand nachlief. »Warten Sie!« rief der Mann mit der Kappe und fuchtelte mit einer Hand in der Luft. »Es ist nichts Besonderes«, sagte er dann, als er Ascher erreicht hatte. »Sind Sie Arzt? Ich habe gehört, Sie seien ein Doktor.« »Nein.« Ascher schämte sich … Warum wies er diesen Mann nicht ab? Er wußte, daß er sich nur noch tiefer verstrickte, wenn er log, aber er war wehrlos dagegen. Er merkte, daß er wie von selbst log.
»Ich schaue jeden Toten an«, sagte der Mann, während er selbstverständlich neben ihm herging. Wahrscheinlich wollte er nur schwatzen. »Schon als Kind habe ich jeden Toten angeschaut, auch wenn ich stundenlang habe gehen müssen … Habe ich am Abend gehört, daß jemand in der Umgebung gestorben ist, so habe ich vor Aufregung die ganze Nacht nicht schlafen können … Am nächsten Tag bin ich den Toten ansehen gegangen.« Der Mann war klein, unter seinen Augen hingen tiefe Tränensäcke, und da die Augen selbst nur schmal waren, sah er verschwollen aus. Über der Oberlippe trug er einen Schnurrbart. Machte er eine Feststellung, dann schwieg er
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