Der stille Ozean
in milchig durchsichtige Schleier auf. Ein anderes Mal war neben die Haustüre eine Bohnenstange gelehnt. Die Bohnenblätter waren rostrot, die Schoten gelb und vertrocknet gewesen. Alles schien aus dem leuchtend durchsichtigen Nebeldunst, der auf den Wiesen und vor dem Wald lag, zu kommen. Die Nebel des Präkambriums hatte er sie genannt. Einmal ging er hinaus und kehrte mit einer Handvoll Blätter zurück, die er unter das Mikroskop legte. Sie waren gelb und hellbraun gesprenkelt wie Eidechsen- oder Schlangenhäute, manche waren einfach vertrocknet und hatten sich entfärbt, wodurch sie Pergamenten ähnelten, andere waren wassergelb oder braun wie Tabak oder hatten sich auf den Zweigen eingerollt oder lagen schwarz und verfaulend unter den Bäumen. Dann war er im Zimmer gestanden und hatte sie angestarrt. Wie sinnlos ihm plötzlich alles erschienen war. Was für ein Leben war das, ohne seine Frau und das Kind. Er setzte sich vor das Mikroskop. Eines der Blätter bestand nur noch aus den Pflanzenadern. Als er durch das Mikroskop schaute, fiel ihm ein, wie er früher Blätter präpariert hatte. Er fand das Fläschchen Zaponlack und bestrich ein Blatt, dann schnitt er die Lackschicht, nachdem sie getrocknet war, mit dem Rasiermesser an. Er nahm eine spitze Pinzette, zog die feine Lackhaut von der Blattfläche ab, legte sie auf einen Objektträger und verschloß sie mit einem Deckglas. Es war ihm wieder, als schaute er in ein anderes Zeitalter. Für dieses Blatt mußte er ein versteinerter Kopffüßler sein, der sich über es beugte und durch geschliffene Gläser betrachtete. Wie würde er selbst leben mit dem Zeitempfinden einer Mücke? Welche Zeitalter blickten ihn an, wenn er einen Fisch betrachtete? Er erinnerte sich an die fliegenden Fasane: Verging die Zeit für sie schneller oder langsamer als für ihn? Er hatte einige Monate die Tiere und Pflanzen in Süßwassertropfen studiert. Alles war von Organismen durchdrungen, die in ihre Zeit gebettet waren, ohne von den anderen Zeitaltern etwas zu wissen. Vielleicht war er auch nur eine winzige Zelle in einem größeren Organismus, den er nicht erkennen konnte, ja, nie begreifen würde. Er wußte zwar, daß die Erde sich drehte und durch das All flog, aber er spürte nichts davon. Er spürte nichts von der Zeit, die im All verging, nur von seiner Zeit spürte er etwas. So konnte es also leicht möglich sein, daß er sich im Inneren eines riesigen Körpers befand, der sich selbst bewegte. Vielleicht war das Gott? – Er gab es auf, für sich selbst zu sorgen. In Abfallsäcken lagen Konservenbüchsen, Sardinendosen, zerknitterte Aluminiumfolien, in die das Trockenbrot eingewickelt gewesen war. Die Fliegen setzten sich auf jedes winzige Nahrungsstück. Nachts hörte er Mäuse rascheln. Unter der Holzdecke seines Plafond* lebte ein Tier, das in der Nacht scharrte, kratzte und pfiff. War es ein Vogel? Eine Ratte? In diesem Haus war Platz genug. Er versuchte zu beten, aber es kam ihm feige vor, im Geheimen, im Versteckten zu beten. Vor Gericht hatte man alles so genommen, als ob er dafür verantwortlich sei. Und er hatte sich immer wieder gefragt, ob das wirklich er gewesen war, von dem man gesprochen hatte. Er hatte schließlich nur noch darüber gestaunt, wie einfach alles schien. Aber nur vor Gericht war es einfach gewesen, nachher trat er wieder der Zeit gegenüber. Die Zusammenhänge lösten sich für ihn jetzt in eine Reihe von Handlungen auf, denen man erst im nachhinein eine Bedeutung gegeben hatte. War er schuldig? Er glaubte nicht mehr daran, daß er tun konnte, was er wollte. Er ging hinaus. Vor den Häusern war überall Holz gestapelt. Am Wegrand blühten wilde Kamille und Rainfarn. Später sah er über den Wiesen einen hellbraunen Hauch von abgeblühten Habichtskrautkugeln. Die großen, grünen Blätter von Burgunderrüben waren von Würmern zerfressen. Auf der Straße lagen verlorene Maispflanzen, und er bemerkte jetzt immer wieder abgeerntete Äcker zwischen den Maisfeldern, die die Sicht in die Ferne öffneten. Vor einem Bauernhaus lehnten zwei ausgediente Kinoklappstühle, die umgeklappten Sitzflächen waren schwarz, darauf stand in großen Ziffern 49 und 50. Er ging hinunter ins Dorf. Unterwegs blieb er einmal stehen und sah einem Bauern zu, der mit seiner Frau und seinem Sohn Mais umschnitt. Die Maispflanzen lagen der Reihe nach in den Ackerzeilen, die Stritzeln waren auf Haufen zusammengeworfen. Zwar hatten die drei Ascher gesehen, aber sie ließen sich
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