Der stille Ozean
gewesen.
5
Am Nachmittag des nächsten Tages klopfte es an seine Tür. Ein stotternder Mann mit einer Fistelstimme und einer mehrfach gebrochenen Nase, die Ascher an einen Vogelschnabel erinnerte, bat ihn, mit ihm zu kommen. Ein alter Mann, der nicht weit von hier wohne, liege im Sterben. Ascher sagte, er würde kommen.
Der Mann sei nie zum Doktor gegangen. »Keinen Doktor!« brachte er stotternd hervor. Ascher steckte seine Packung Ampullen und Injektionen ein und folgte dem Mann. Hatte man ihn erkannt? Wußte man, wer er war? Der Himmel war blau und das Sonnenlicht schneidend hell. Ascher kam sich wie aus dem Schlaf gerissen vor. Er war in der sonnigen Küche gesessen und hatte in den Büchern gelesen. Jetzt bemerkte er, daß ein starker Wind wehte, der die großen weißen Wolken über den Himmel trieb und deren Schatten über die Hügel gleiten ließ. Manche Hügel, Wiesen, Häuser und Bäume lagen in der Sonne, andere wieder für kurze Zeit im Schatten, als schwebte ein riesiger Vogel über sie. Der Mann hielt seinen Hut, und Ascher lief hinter ihm, als verfolge er ihn. Es kam ihm vor, als triebe der Wind ihn vor sich her. Seine Jacke flatterte, wurde umgestülpt, die bewegte Luft zerzauste seine Haare, während er in den Wald eilte. Da die Äste und Zweige nun schon dünner belaubt waren, schien das Licht heller zwischen die Bäume. Im Graben lag ein Haufen Apfelmasse, die beim Pressen zurückgeblieben war und dem Wild vorgeworfen wurde. Sie liefen über einen Acker. Der Mann drehte sich um und zeigte mit der ausgestreckten Hand auf ein Haus. Ascher nickte. Er mußte darauf achten, in der weichen Erde nicht zu Sturz zu kommen. Sein Atem ging heftig. Er war das Laufen nicht gewöhnt und rang nach Luft. Der Mann öffnete eine eiserne Tür. Ascher blickte in einen dunklen Raum. Durch zwei kleine Fenster fiel Licht. Als Aschers Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, daß er sich in einer Küche befand. In einer Ecke stand ein blaugestrichener Kasten, auch die Kredenz war blau gestrichen. Von der Decke hingen Maiskolben. Im Bett lag ein abgemagerter alter Mann mit einem großen, grauen Schnurrbart und langen, gescheitelten Haaren. Sein Kinn hing herunter, die Augen waren geöffnet und blickten ins Nichts. Ascher war herangetreten und sah eine runde, mit Draht geflickte Brille auf der Tischkante neben dem Bett. Der Pfarrer packte gerade die Gegenstände, die er zum Versehen benötigte, ein. Er war ein mittelgroßer Mann mit einer gebogenen, abweisenden Nase. Seine Lippen waren schmal, die Augen hinter der dunkelgefärbten Brille nicht zu erkennen. Sein Haar war vom Wind oder vom Schlaf zerzaust, das Gesicht unbeweglich wie eine Maske. Seine Schuhe knarrten beim Gehen, und sein grauer Anzug war so abgewetzt, daß er an den Ärmelumschlägen und den Ellbogen deutlich heller war. Sein Gesicht hatte gleichzeitig etwas von Widerstand und von Müdigkeit. Aber Ascher hatte das Gefühl, daß alles in ihm Abwehr war. Wußte er etwas von ihm? Sah er sich vor? Oder war er einfach so? Rasch ging er hinaus mit einem scheuen, kaum merklichen, winzigen Lächeln, als entschuldigte er sich damit. Ascher trat an den Toten heran und schloß ihm die Augen. Das Gesicht hatte einen überraschten Ausdruck. An der Wand hing ein kleiner Teppich mit einer Fotografie, die ihn als Soldat im Ersten Weltkrieg zeigte. Die Uniform schlotterte an ihm, die Schildmütze war zerdrückt, über einer der Brusttaschen hing ein Orden. Dieser Mensch hat nie jung ausgesehen, dachte Ascher. Vielleicht hatte er nie Zeit gehabt zum Jungsein. Die Arbeit hatte schon früh an seinem Körper gezehrt. Bauern mit schwarzen Samthüten und grünen Bändern umgaben ihn auf einem anderen Bild. Neben ihm lehnte ein Bub in Lederhosen, mit kahlgeschorenem Kopf. Zwischen den Knien und den Stutzen konnte er das weiße Unterkleid erkennen. Auch eine Hochzeitsfotografie hing an der Wand. Sie zeigte den Mann mit einer Frau am Waldrand. Sein Schnauzbart war aufgebogen, er hatte einen weiten Hut auf dem Kopf, ein weißes Hemd und eine Schleife um den Hals, aus dem geöffneten Anzug sah eine Uhrkette heraus. Die Frau hatte sich bei ihm eingehängt. Sie hatte einen in Papier eingewickelten Asternstrauß in der Hand, ihr Kleid war lang, ihr Gesichtsausdruck ernst. Links und rechts von ihnen standen zwei Männer mit Hüten, weißen Hemden und Schnauzbärten. Das seltsame aber war das hohe Blumentischchen vor dem Paar, auf dem ein Buch lag. Ascher beugte sich
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