Der stille Ozean
kurz, um die Feststellung im nachdenklichen Ton zu wiederholen. Das Auf und Ab der Hügellandschaft war irritierend. Einmal sah Ascher alles von oben, dann wiederum mußte er bergauf gehen, so daß er das Gefühl hatte, er ginge auf die Wolken zu, die über dem Hügelkamm standen, während ihm nur das nächste: seine Füße, die Steine der Straße oder die Umrisse seines Begleiters in die Augen sprang. Gleich darauf konnte er weit in das Land hineinsehen, über Hügel, die bedeckt waren von Ribiselgebüschen und geduckten Holzhäusern, Flecken von Mischwald und Wiesen bis zu einem hohen Berg, der sich im Dunst in der Ferne erhob. Er bemerkte, daß das Dach seines Hauses wie ein stumpfer Schildkrötenpanzer aussah, so als sei es zur Abwehr des Winters bereit. »Auch Selbstmörder habe ich angeschaut«, hatte der Mann fortgesetzt, »wie den Bruder des Toten … Der Mann ist mit einem Strick in den Wald gegangen«, sagte er, während er nun stehengeblieben war, um Ascher beim Erzählen in das Gesicht zu blicken oder Luft zu holen. »Bevor er sich jedoch noch etwas antun konnte, hat man ihn gefunden und gewaltsam nach Hause gebracht.« Dort hätten ihn ein Knecht und der nun ebenfalls verstorbene Bruder so lange niedergehalten, bis er aus Erschöpfung ruhig geworden sei. Sie hätten gewartet, bis er eingeschlafen war und seien dann selbst zu Bett gegangen. Als sie jedoch am nächsten Morgen nach ihm gesehen hätten, sei er nicht mehr in der Küche gewesen. Als erstes sei ihnen dann die Tenne eingefallen … »Bis die Gendarmen kamen, haben sie ihn in der Tenne hängen lassen müssen«, sagte der Mann weitergehend. Vor ihnen lag die große, baumlose Wiese, die sanft abfiel und sich weit im Graben ausstreckte, bis sie steil ansteigend zu Aschers Haus auslief. Von hier aus konnte man weit nach Süden sehen, und am Abend kam es Ascher vor, als blickte er in ein unwirkliches Land. Der Mann schenkte seiner Umgebung keine Beachtung. »Am Abend hat der Weinzierl, wie man bei uns einen Knecht nennt, den Toten rasiert und dabei sein Gesicht so zerschnitten, daß man ihn nicht mehr herzeigen konnte. Auch hat er, nachdem er ihn gewaschen und angekleidet hat, die Nachricht verbreitet, daß der Tote, obwohl er sich aufgehängt habe, sich nicht beschmutzt habe, wodurch verschiedene Gerüchte entstanden sind.« Daraufhin hätten die Verwandten ihm verboten, zum Begräbnis zu kommen, erzählte der Mann weiter. Der Vater des Nachbarn kam ihnen, eine Schubkarre schiebend, mit schwarzen Ohrenschützern und einem Hut auf dem Kopf entgegen. Er tat so, als sähe er sie nicht, grüßte sie aber dann doch, bevor er an ihnen vorbeigegangen war, mit einem kurzen Lächeln. Inzwischen hatte der Mann respektvoll seine Kappe gezogen und gewartet, bis der Alte so weit entfernt war, daß er ihn nicht mehr sprechen hören konnte. Die gesamte Familiengeschichte des Verstorbenen, fuhr er dann leiser fort, sei durch Schrecken gekennzeichnet. Die beiden Töchter hätten, als sie »ledigerweise« schwanger geworden seien, Gift genommen (er sagte, sie hätten sich »abgefüttert«), weil die Männer nichts mehr hätten von ihnen wissen wollen. Eine habe vor Schmerzen tagelang geschrien, bis sie gestorben sei. Er habe sie nach Wuggau tragen helfen, denn damals habe es weder eine Straße in dieser Gegend gegeben noch ein Fahrzeug, das über Feldwege bis zu ihnen hätte gelangen können. Zwei Tage später sei sie tot gewesen. Nun konnte Ascher schon die Kirschbäume hinter dem Haus sehen, die mit einem Schleier absterbender Blätter bedeckt waren und in ihrer Buntheit wie mit gelben und roten Federn eines Paradiesvogels geschmückt aussahen. Er bog von der Straße in die Wiese ab und ging quer über sie auf den Hof zu. Der Mann folgte ihm. Als erstes, setzte er fort, sei der Vater verrückt geworden. Man wisse nicht genau warum. Angeblich habe er immer sein gesamtes Geld bei sich getragen. Weder habe er sich dazu entschließen können, es auf eine Bank zu legen, noch es zu Hause zu verstecken. Eines Tages habe er das Geld vermißt. »Die einen sagen, er habe es verloren, die anderen wiederum, es sei ihm gestohlen worden«, ereiferte er sich. Ascher bückte sich, um verfaultes Obst aufzuheben, das dort, wo es auf die Erde gefallen war, von weißen schimmelpilzartigen Kreisen überzogen war.
»Langweile ich Sie?« fragte der Mann plötzlich. Ascher fiel auf, daß er die Frage erst gestellt hatte, als er sich seines Interesses versichert hatte.
»Erzählen Sie
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