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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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das Kind einmal dafür interessieren, dachte er. Er steckte die Plättchen in die Kistchen zurück, verschloß sie, deckte das Mikroskop ab und blätterte im Histologischen Atlas. Aber er wollte die Bilder nun nicht mehr losgelöst von anderen sehen. Gerne hätte er jetzt mit jemandem gesprochen. Er überlegte, zum Kaufhaus zu gehen, kam aber davon ab, denn es war schon dunkel, und er war sich nicht sicher, ob überhaupt noch jemand dort sein würde. Er packte die Medikamente und einige seiner Instrumente in den Rucksack. Am nächsten Tag würde er nach Wuggau gehen. Später nach Haslach, nach St. Georgen und nach Tombach. Es kam ihm vor, als müßte er etwas nachholen, was er versäumt hatte. Er fand in der Speisekammer eine angebrochene Flasche Slibowitz, die ihn auf die Idee brachte, Tee zu kochen und mit Schnaps zu trinken. Er goß das heiße Wasser in eine Schale, hängte den Teebeutel ein und wartete, bis das Wasser braun geworden war. Dann vermischte er es mit Zucker, schüttete den Slibowitz hinein und trank.
     

28
     
    Am Tag sprach er jetzt häufig mit Alten, die in der Küche saßen. Manchmal war eine Küche gleichzeitig das Schlafzimmer (denn die Ehebetten standen in ihr), der Eßraum (mit der Eckbank und dem Tisch), der Raum, in dem auch ferngesehen wurde, und das Badezimmer (dann hing über dem Waschbecken der Spiegel, auf einer Etagere lagen der Rasierpinsel und die Zahncreme).
    Einmal holte Zeiner ihn, weil sein Vater am Nachmittag im Bett schlafend vom herabfallenden Ofenrohr an der Stirn getroffen worden war. Als er das Schlafzimmer betrat, roch es nach Kohlendioxyd. Das Fenster war schon geöffnet. Es war ein großer Raum mit einem Bretterboden. Das Ofenrohr hatte man wieder in die Maueröffnung gesteckt, ein Rußfleck war dort an der Wand. Der kleine Mann lag im Bett, auf der Stirn einen blutigen Waschlappen. Ascher behandelte ihn, die Angehörigen standen herum. Er hatte jeden Handgriff gerne gemacht, auch seine Sorge um den kranken Mann war ein angenehmes Gefühl gewesen. Der Sohn des Wirtes von St. Ulrich war in der Stadt an einem Leistenbruch operiert worden, die Wunde hatte geeitert, so daß man ihm aufgetragen hatte, nach der Entlassung Kamillenbäder zu nehmen. Als Ascher eingetreten war, hatte der Wirt seinen Sohn angewiesen, ihm die Wunde zu zeigen, worauf der Sohn sich entblößt hatte. Dabei war er aber doch aus dem Gastzimmer auf den Gang getreten. Zuletzt war er in einer Buschenschank von der Besitzerin angesprochen worden, daß sie unter Halsschmerzen und Fieber leide. Als Ascher ihr die Injektion geben wollte, hatte sie ihr Kleid hochgehoben und sich mit einer Hand auf die Tischplatte gestützt. Von den Gästen hatte keiner eine anzügliche Bemerkung gemacht, Ascher hatte den Eindruck gehabt, daß niemand etwas Besonderes daran gefunden hatte. So waren ein paar Tage vergangen.
     

29
     
    Tagsüber war alles so nahe gelegen, die Bauernhöfe, die sonst so weit weg wirkten, waren auf einmal klar zu erkennen gewesen, auch jeder Telegrafendraht, jedes Fenster. Am Nachmittag hatte Ascher in der Ferne weiße Schneefahnen gesehen, die von den Wolken bis zu den Bergrücken gereicht und ihn an Windhosen erinnert hatten. Ganz still hatte das Schneegestöber von weitem ausgesehen. Dann war es rasch trübe geworden. Nebelverhangen waren die Berge geworden, nur im Tal unter sich hatte er die Landstraße und einige Häuser im klaren Sonnenlicht gesehen. Endlich hatte es geschneit. Es waren schwere dichte Flocken gewesen, und in die Luft zu schauen, aus der die Flocken gefallen waren, hatte etwas Beruhigendes und Einschläferndes gehabt.
    Am nächsten Morgen war es rund um das Haus weiß, helles Sonnenlicht lag auf den Hügeln. Aschers Gehirn begann erst langsam zu funktionieren, und so machte er manche Handgriffe doppelt, erst nach einer kleinen Willensanstrengung war er endgültig wach. Er hatte vor, vom Kaufhaus aus seine Frau anzurufen, dann würde er weitersehen. Als er das Kaufhaus erreichte, liefen gerade einige Bauern, die er nicht näher kannte, zu ihren Fahrzeugen. Er fragte einen Milchführer, was geschehen sei, und der Mann rief, daß ein ihm bekannter Kleinbauer, dessen Namen er auf Aschers Frage wiederholte – er hieß Lüscher –, drei Menschen erschossen habe. Er fahre nun nach Oberhaag, um zu sehen, was geschehen sei. »Wollen Sie mitkommen?« fragte er. Ascher stieg auf den Traktoranhänger, hockte sich hin und klammerte sich an die Planken. Der Eishimmel über ihren Köpfen

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