Der stille Ozean
haben. Ascher fragte sich, wie gut er ihn gekannt haben mochte. Er sah jetzt unter der Küchenlampe sein Gesicht. Es war lang und faltig und gebräunt, wie Menschen es haben, die sich lange im Freien aufhalten. Sein Mantel roch nach Mottenkugeln, wahrscheinlich hatte er ihn schon lange nicht mehr getragen.
Lüscher habe mit dem Erschossenen und auch dem Ehepaar, das er zuvor getötet habe, eine Gerichtsverhandlung geführt, die er verloren habe, sagte er. Er war froh, die Geschichte loszuwerden. Es habe sich um 2800 Schilling gehandelt, und zwar habe Lüscher zusammen mit den anderen eine Reitschule gegründet. Er habe einen Gewinnanteil für jene Pferde erworben, die aus der Zucht zum Verkauf gekommen seien. Wegen einer Streitigkeit sei er jedoch aus dem Geschäft ausgetreten und habe das Geld für seinen Anteil zurückverlangt.
Der Gendarm schob sich die Mütze ein wenig aus dem Gesicht, als sei ihm heiß. Sein Haar über der Stirn war dicht und lang, und er stopfte es sich, indem er die Mütze aufhob, unter die Kopfbedeckung. Dabei warf er, ohne das Erzählen zu unterbrechen, einen Blick auf Ascher, so daß es den Eindruck machte, er sei gerührt. Aber Ascher erkannte, daß es nur eine Gewohnheit von ihm war.
Zusätzlich habe Lüscher die Abgeltung für einen Zaun gewollt, den er zum Teil mit seinem Holz aufgestellt habe, fuhr er fort. Den Anteil habe er zurückerhalten, nicht aber das Geld für den Zaun. Als daraufhin ein Pferd verkauft worden sei, habe er, da er seiner Ansicht nach noch nicht zur Gänze ausbezahlt worden sei, den ihm noch zustehenden Anteil verlangt. Man habe ihm diesen aber verweigert. »Er ist zum Anwalt gegangen und zur Kammer. Zum Schluß haben ihn die anderen schon ausgelacht«, schloß er. Ascher schwieg. Sie standen beide vor dem Toten und schauten ihn an. Im Grunde gab es am Tod nichts zu verstehen. Er passiert wie das Selbstverständlichste, und doch war er das Fremdeste und Entfernteste, das er kannte. Wenn er einen Toten sah, fühlte er immer eine Betäubung, die ihn zwar sehen und sich empfinden, jedoch nicht denken ließ. So war es auch jetzt.
Nach einer Weile fuhr der Gendarm fort, daß Lüscher in der Früh bei seinem Nachbarn, einem Jäger, zwei Gewehre gestohlen und hierauf das Ehepaar, dann Herbst erschossen habe. »Mehr weiß ich selber nicht«, sagte er. Ascher hatte ihn noch gefragt, wo sich das Haus des Ehepaares befand, und der Gendarm hatte es ihm beschrieben, wobei Ascher der Umstand aufgefallen war, daß der Tote im Raum lag, während er sich ausführlich den Weg erklären ließ. Draußen im Hof wachten noch immer die Gendarmen. »Alles in Ordnung?« fragte der Unteroffizier ihn von weitem, und als Ascher sich bedankte, nickte er. Vom Stalldach lief Wasser mit lautem Geplätscher in eine Pfütze. Ein Fuhrwerk war in der offenen Scheune untergestellt. Ascher wußte nicht warum, aber er hatte es plötzlich eilig. Er ging rasch, fast lief er. Vor dem Haus sahen ihn die Menschen neugierig und mißtrauisch, wie es ihm vorkam, an. Daraufhin ging er wieder langsamer. Eine Patrouille Gendarmen mit umgehängten Gewehren und zwei beleibte Zöllner mit einem Schäferhund machten sich zum Wald auf, der hinter dem leicht ansteigenden Acker in der Ferne als eine graue Linie zu sehen war.
»Wir durchkämmen den Wald bis zur Grenze. Wenn wir uns beeilen, kriegen wir ihn vielleicht«, hörte er einen der Zöllner sagen. Ein VW-Bus mit Gendarmen fuhr vorbei und beschleunigte die Geschwindigkeit, sobald er die Neugierigen hinter sich gelassen hatte.
Ascher bog zur Bundesstraße ab. Es war noch vor Mittag, aber die Geschäfte hatten die Rolläden heruntergelassen, auch die Rouleaus und Balken der Häuser waren geschlossen. Vor der Tankstelle und dem alten Rüsthaus besprach eine Gruppe von Gendarmen ihren Einsatz, Gendarmeriefahrzeuge waren davor abgestellt. Er bemerkte jetzt, daß die Gendarmerie auch die Ein- und Ausfahrt des Dorfes bewachte. Wahrscheinlich fürchtete man, daß der Mann sich versteckte und vielleicht versuchte, zurückzukommen. Als er sich der Gruppe näherte, hörten die Gendarmen auf zu sprechen und blickten ihn an, dann redete einer weiter, und die anderen kümmerten sich nicht mehr um ihn. Neben dem Rüsthaus befand sich ein Friseurgeschäft, und Ascher fiel auf, daß im ersten Stock die Vorhänge zur Seite gezogen waren und ein glatzköpfiger Mann auf die Straße starrte. Ascher hob den Kopf, der Mann wich kurz zurück, kam aber wieder ans Fenster und tat so,
Weitere Kostenlose Bücher