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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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schien das Licht zu reflektieren wie ein großer Spiegel, und auch der Schnee warf es zurück. Im Anhänger befanden sich noch die beiden Milchkannen des Fahrers, Ascher griff sich eine und setzte sich darauf, die andere kollerte herum, so schnell fuhr der Mann. Unter dem hellen Himmel flogen die Kastanienbäume vorbei mit den weißen Stämmen und Ästen, die weißen Telegrafenmaste und die weißvereisten Drähte, und als sie an eine schattige Stelle kamen, wurden die Wolken auf dem Himmel sichtbar. Dann polterten sie über den nicht asphaltierten Teil der Straße, es ging bergab, und erst in der Ebene wurde die Fahrt wieder ruhiger. Aschers Hände waren trotz der Handschuhe – wie auch sein Gesicht – eiskalt geworden. Zunächst fuhren sie durch Unterhaag, dann durch Oberhaag, und Ascher erinnerte sich, daß er in den Dörfern schon gewesen war, als er (nach seiner Ankunft) Zeiner auf der Fasanenjagd begleitet hatte. Die Orte bestanden aus einfachen Häuserzeilen entlang der Bundesstraße, dahinter folgten die Äcker und Wiesen. Von weitem sah Ascher den Kirchturm über den Häusern blitzen. Der Milchführer bog von der Straße ab. Sofort stießen sie auf Gendarmen mit langen Mänteln und umgehängten Maschinenpistolen. Sie gaben ihnen durch Zeichen zu verstehen, daß sie anhalten mußten. Ihre Mäntel reichten ihnen bis zu den Waden, und wenn sie mit jemandem sprachen, geschah es mit lauter, aufgeregter Stimme. Überall warteten Neugierige in Arbeitskleidung mit Mützen und Hüten, zumeist in Gruppen, die Hände eingesteckt und rauchend. Andere lehnten an Traktoren, als richteten sie sich auf eine lange Wartezeit ein. Die Männer und Frauen redeten kaum, manchmal rief jemand etwas zu einer anderen Gruppe. Der Milchführer bremste, stellte den Traktor am Straßenrand ab und begleitete Ascher zu einem einstöckigen Haus. Ascher fiel auf, daß die Balken geschlossen waren, dadurch erweckte es den Eindruck, von den Bewohnern verlassen zu sein. »Geht nach Hause. Hier gibt es nichts zu sehen«, rief einer der Gendarmen. Niemand beachtete ihn. An einer geschlossenen Gartentür hing ein Schild: Reitschule M. Herbst. Zwei VW-Busse der Gendarmerie parkten im Schnee unter einem Baum.
    Eine Menge gelber Spuren führte durch den Hof. Herunten, in der Ebene, war es wärmer als oben auf den Hügeln, der Schnee fiel manchmal platschend von den Zweigen, und vor der Stalltür hatte sich eine große Pfütze gebildet. Hinter der Pfütze unterhielt sich eine Gruppe von Gendarmen. Ascher bemerkte jetzt, daß ihm der Milchführer nicht gefolgt, sondern neben einem Mann draußen vor der Hoftüre stehengeblieben war.
    »Sie können hier nicht eintreten«, sagte einer der Gendarmen. Er kam durch die Pfütze auf ihn zu. »Wenn Sie wollen, können Sie auf der Straße warten, hier in den Hof hat niemand Zutritt.« Er war groß und kräftig und hatte eine birnenförmige Nase. Sein Gesicht hatte eine ungesunde Farbe, als habe er die vorangegangene Nacht nicht geschlafen, aber seine Augen waren lebhaft und musterten, ohne daß er es verbergen wollte, Ascher vom Kopf bis zu den Füßen. Ascher nahm den Rucksack herunter. »Was machen Sie da?« fragte der Gendarm. Ascher öffnete den Rucksack und zeigte ihm den Inhalt. »Ich bin Arzt«, sagte er. Der Gendarm warf einen Blick hinein. »Wir brauchen keinen Doktor mehr«, sagte er. »Danke.«
    »Ich wollte sehen, was vorgefallen ist«, erklärte Ascher rasch, während er den Rucksack wieder zuzog und um die Schultern hängte. Er wußte nicht, ob es richtig war, was er tat, er spürte nur das Bedürfnis, wissen zu wollen, was geschehen war.
    »Warum wollen Sie in das Haus?« fragte der Gendarm, »es gibt nichts mehr zu sehen«, er drehte sich nach den anderen Gendarmen um, die noch immer hinter der Pfütze standen und sich unterhielten.
    »Warten Sie«, sagte er dann, ging durch die Pfütze zurück und sprach einen Unteroffizier an. Ascher erkannte sein Gesicht, er war dem Mann auf der Hochzeit begegnet, hatte auch ein paar Worte mit ihm gewechselt, ohne daß er ihm näher aufgefallen war. Er war klein und gedrungen, und seine Bewegungen waren so langsam, daß er den Eindruck machte, alles sei ihm gleichgültig. Die anderen Gendarmen steckten die Köpfe zusammen und hörten zu. Ascher erinnerte sich jetzt, wie er auf der Hochzeit getanzt hatte. Er war ein flinker Tänzer gewesen, und bei Tisch hatte er Achtung genossen, denn man hatte ihn, da er nicht sehr gesprächig gewesen war, immer nach seiner

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