Der stille Ozean
Meinung gefragt oder fragend in sein Gesicht geblickt, um zu erfahren, was er dachte. Er schaute zu Ascher herüber. Er trug eine Gendarmenkappe, die mit einer Nylonhaut überzogen war, und einen Gummimantel mit einem Gürtel. Jetzt kam er durch die Pfütze auf ihn zu und sah ihn an. Aus seinem Gesicht war zu lesen, daß ihm Ascher zwar bekannt war, er sich aber anstrengte dahinterzukommen, woher. Dann schien es ihm einzufallen, denn seine Miene entspannte sich, und er warf beim Gehen zwischendurch einen Blick vor seine Füße. Der Gendarm, der ihn geholt hatte, war stehengeblieben und hatte eine Haltung angenommen, als bewache er das Haus.
Er hatte jedoch Ascher den Kopf zugedreht.
»Sie wollen das Haus betreten?« fragte der Unteroffizier.
»Ja.«
»Sie sind Arzt? – Der Gendarm hat es mir gesagt. Ich wußte das nicht.« Er machte kehrt und forderte ihn auf, ihm zu folgen. »Sie können nichts mehr tun«, sagte er dabei. Die beiden Gendarmen, die vor der Tür standen, warteten, was weiter geschehen würde.
»Lassen Sie den Doktor hinein«, sagte der Unteroffi zier, dann wandte er sich Ascher zu und sagte: »Wenn Sie wieder heraus wollen, müssen Sie klopfen.« Er legte seine Hand an die Schirmmütze, was Ascher, obwohl er wußte, daß er es aus Gewohnheit machte, wohl tat. Die Tür des Hauses war weiß und grün gestrichen. Ascher trat ein. Durch drei kleine Glasscheiben über einer der Türen, die vom Vorzimmer wegführten, sah er Licht, daher öffnete er sie. Ein Wachposten stand direkt vor ihm, seine Gestalt verdeckte den Blick in den Raum (er gab nur die Sicht auf eine zweite Tür, eine Küchenlampe und braune Tapeten frei). Im Halbdunkel waren seine Augen durch den Schatten seines Mützenschirmes verdeckt. Nachdem er ihn nach seinem Namen gefragt und sich erkundigt hatte, wer er sei, machte er achselzuckend einen Schritt zur Seite. Er hatte ein Gewehr über der Schulter hängen, sah aber nicht so aus, als habe er die Absicht, einmal davon Gebrauch zu machen. Die Küche, vor der Ascher stand, war nicht besonders groß. Ein Tisch mit einer Plastikplatte war vor eine hölzerne Sitzbank gestellt. Auf der Bank lag ein Mann, sein Kopf war in einen durchsichtigen Nylonsack gehüllt. Dort, wo sich das Gesicht befand, war der Sack blutig. Eigentlich lag der Mann nicht, wie Ascher bei genauerem Hinsehen bemerkte, sondern er saß noch immer, nur war der Oberkörper zur Seite gefallen, der linke Arm hing ausgestreckt bis zum Boden, während der rechte auf der Brust ruhte, so daß einige Finger zu sehen waren. Unter seinem Kopf hatte sich eine große, dunkle Blutlache ausgebreitet, die in eine kleinere, wäßrige überging. Neben der Bank sah Ascher ein Paar Hausschuhe, auf der Tischplatte lag ein Buttermesser zwischen Papierstücken, die aussahen, als hätten Kinder zuvor darauf gezeichnet und sie liegengelassen.
Die Balken waren geschlossen, darum war es so dunkel. Billige, gemusterte Vorhänge waren zur Seite gezogen, auf einer der Fensterbänke stand ein Bügeleisen. Die untere Hälfte der Fenster war, wie Ascher es oft bei alten Leuten in der Stadt gesehen hatte, mit Stoff bespannt. In der Ecke der Bank bemerkte er einen Haufen Kinderwäsche, ein Hut lag ein Stück weiter weg neben einem Polster. Unter den Tisch war ein Papierstück mit einer Zeichnung gefallen. Ein kleines Kreuz hing an der Wand, darunter ragten Zweige aus einem Glasbehälter. Das Blut war bis zur Tür gespritzt, auf der man noch Tropfen sah.
»Die Frau hat gesagt, daß er hereingekommen ist und das Gewehr in der Hand gehalten hat«, sagte der Gendarm. Er habe ihren Mann am Kopf getroffen. Die beiden Kinder seien mit ihm am Tisch gesessen, die Frau am Herd gestanden und habe Kaffee gekocht. Lüscher, so heiße der Täter, sei geflohen, man vermute über die Grenze nach Jugoslawien.
»Kennen Sie ihn?« fragte Ascher.
»Natürlich«, gab der Gendarm zurück. Er habe den Beinamen der ›Hosenmacher‹ gehabt, weil sein Großvater Trachtenlederhosen verfertigt habe. Er dachte kurz nach. Der Vater habe sich, als er die Einberufung zum ›Hitlermilitär‹, wie er es nannte, erhalten habe, im Brunnen ertränkt. Der Sohn sei als ›Gerechtigkeitsfanatiker‹ bekannt gewesen. Er hatte sich jetzt endgültig entschlossen, mit Ascher zu reden. Wahrscheinlich war er froh, mit jemandem sprechen zu können. Schon seit wenigstens einer Stunde mußte er hier mit dem Toten in der Küche zusammen gewesen sein und die Möbel und den Erschossenen angeschaut
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